Zur Kriegspolitik der Bundesregierung, dem Verhältnis zu den USA und einer multipolaren Alternative

Nicht dumm machen lassen

Sevim Dagdelen

Am 7. Oktober fand in Neuenhagen bei Berlin die Alternative Einheitsfeier des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden (OKV) statt. Sevim Dagdelen, außenpolitische Sprecherin des BSW, hielt die Hauptrede unter dem Titel „Sie wollen uns in einen Krieg hineinlügen“. Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus der Rede, die wir vor allem um den ersten Teil zu den Kriegslügen in der Geschichte des deutschen Imperialismus gekürzt und leicht bearbeitet haben. Die Rede kann im Ganzen hier nachgelesen werden.

In den letzten Wochen gab es zahlreiche Zwischenfälle mit Drohnen, die an Flughäfen und an Militärstandorten in Westeuropa auftauchten. Eine hysterische Presse, getrieben von den Politikern der etablierten Parteien, machte – ohne einen einzigen Beweis dafür zu haben – die Russen verantwortlich. Immer neue Aufrüstungsforderungen tauchten in der Folge auf.

Unsere erste und wichtigste Aufgabe ist es, uns nicht dumm machen zu lassen von der Kriegspropaganda. Mit diesen Geschichten will man uns in einen Krieg gegen Russland hineinlügen, und hier müssen wir ganz klar sein: Nein, wir nehmen euch eure Propaganda nicht ab.

Auf dieser Welle des Kriegsgeschreis versuchen jetzt führende Politiker der Koalition wie Roderich Kiesewetter, nach dem Spannungsfall zu rufen. Das heißt, dass die Grundrechte ausgehebelt werden. Der Protest gegen die Kriegsvorbereitungen soll zum Schweigen gebracht werden. Der Spannungsfall ist nichts anderes als der Weg in die Diktatur oder – wie es der Kronjurist des Dritten Reiches, Carl Schmitt, formuliert hätte – der Weg in den Ausnahmezustand. Wir müssen diesem Weg in die Diktatur den Kampf ansagen. Sie dürfen mit ihrer Kriegstreiberei nicht durchkommen.

Der Blick von außen

Schaut man sich international um, so stellt man fest, dass das Selbstbild der Bundesregierung als Protagonistin einer wertegeleiteten Außenpolitik nur von sehr Wenigen, gerade im globalen Süden, geteilt wird. Deutschland gilt dort als der kranke Mann, der zu jedem Verbrechen fähig scheint. Ein Land, das dabei ist, sowohl seinen Ruf als auch seine Existenz als Industrienation aufs Spiel zu setzen. Die Leute können es nicht fassen, was in diesem Land abläuft.

„Verbrechen“ ist das Wort geworden, mit dem man unser Land und vor allem unsere Regierung in Verbindung bringt. Mit Verbrechen sind nicht die Verbrechen des Dritten Reiches gemeint. Wenn man sich in der Welt umhört, dann wird die deutsche Bundesregierung ganz konkret mit dem Völkermord der rechtsextremen Regierung Netanjahu an den Palästinensern in Gaza in Verbindung gebracht. Wa­rum? Wegen der herausragenden Rolle Deutschlands bei der militärischen Unterstützung Israels. Erst jetzt durften wir erfahren, dass Deutschland weiter Waffen an das Land liefert. Im EU-Rat ist Deutschland der größte Unterstützer Israels. Berlin sorgt dafür, dass das Assoziationsabkommen mit Tel Aviv nicht ausgesetzt wird.

Berlin ist ein Komplize der Verbrechen Israels. Und genauso wird es international wahrgenommen: als Komplize eines furchtbaren Verbrechens, eines Völkermords.

Damit ist alle Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik endgültig dahin. Keiner wird mehr zuhören, wenn von Demokratie und Menschenrechten die Rede ist. Deutschland wird zum Aussätzigen der Staatengemeinschaft.

Alle Lehren vergessen

Drei Lehren gab es aus dem deutschen Faschismus, im Grundgesetz verankert: die Völkerfreundschaft, das Friedensgebot und das Sozialstaatsgebot. Alle drei werden von dieser Bundesregierung in Frage gestellt.

Zur Völkerfreundschaft sei nur Außenminister Johann Wadephul zitiert, der meint, Russland sei immer unser Feind. Ewige Feindschaft – das ist die Sprache des Krieges. Das ist die Sprache des Weltkrieges, die unser Außenminister spricht. In welche Zeiten möchte uns diese Bundesregierung zurückkatapultieren?

An das Friedensgebot des Grundgesetzes scheint man sich gar nicht mehr erinnern zu wollen. Es sind ja nicht nur die Waffenlieferungen für den Völkermord in Gaza. Es sind gerade auch die Waffenlieferungen an die Ukraine. Es ist eine Bundesregierung, die einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führt, eine Bundesregierung, die einen Wirtschaftskrieg führt, der immer mehr Länder betrifft und am Ende das eigene zerstört.

Wir aber sagen: Kein Krieg ist unser Krieg. Wir wollen keinen Krieg mit Russland. Wir wollen Frieden mit Russland.

Sozialstaat unter Beschuss

Der jüngste Angriff gilt dem Sozialstaatsgebot. Die Bundesregierung treibt ihr Verarmungsprogramm entschlossen voran. Während Berlin überlegt, wie sich durch den Diebstahl russischer Vermögen 140 Milliarden Euro für die Ukraine mobilisieren lassen, geht in Deutschland sozial die Welt unter. Eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Die Lebensmittelpreise explodieren. Energie kostet für Privathaushalte 77,6 Prozent mehr als vor dem Ukraine-Krieg. Unternehmen vermelden Massenentlassungen und Insolvenzen. Die gesamte Autoindustrie steht zur Disposition. Hunderttausende Arbeitsplätze stehen zur Disposition. Die Grundlage des Wohlstands in Deutschland, die Wertschöpfung durch die industrielle Produktion, wird von dieser Bundesregierung an die Wand gefahren. Was wir erleben, ist eine Selbstzerstörung, gekoppelt mit dem Ruin des Sozialstaats von historischem Ausmaß. Wo sind eigentlich die Gewerkschaften und Sozialverbände, die dagegen mobil machen?

Ganz perfide bittet die Bundesregierung die Leute zur Kasse und sorgt dafür, dass sich Armut immer mehr in unserem Land ausbreitet, auch unter Normalverdienern. Die Sozialkassen plündert die Bundesregierung regelrecht, indem sie versicherungsfremde Leistungen nicht aus dem Staatshaushalt begleicht. Die Folge sind riesige Löcher, etwa bei den Krankenkassen, die ihre Beiträge massiv erhöht haben – ebenso wie bei der Pflegeversicherung. Um hier jetzt 1,8 Milliarden Euro einzusparen, prüft die Koalition, die Pflegestufe 1 abzuschaffen. Von diesem Schritt wären 863.000 Patienten betroffen, deren Lebensqualität massiv verschlechtert würde.

Doch auch in dieser Bundesregierung weiß jeder, dass 1,8 Milliarden Euro nicht reichen werden, um die hohen Rüstungskosten für das laufende Jahr in Höhe von 108 Milliarden Euro zu schultern. In der Logik der Kriegsvorbereitung muss die Koalition noch stärker in die Sozialkassen greifen und soziale Leistungen kaputtkürzen.

431302 OKV Saal - Nicht dumm machen lassen - Alternative Einheitsfeier, BSW, deutscher Imperialismus, Kriegslügen, Ostdeutsches Kuratorium von Verbänden e. V., Sevim Dagdelen - Hintergrund
Voller Saal: Matthias Werner, Präsident des OKV, verliest die Willenserklärung der Teilnehmer. (Foto: Rudi Denner/R-mediabase)

Darüber aber gibt es in diesem Land kaum eine Diskussion – auch weil von Gewerkschaften und Sozialverbänden kaum Kritik an der Hochrüstung Deutschlands zu vernehmen ist. Die DGB-Stellungnahme zum Haushalt will über den Elefanten im Raum nichts sagen. Damit aber bleibt alle Kritik an Sozialkürzungen wohlfeil. Wer von der gigantischen Aufrüstung nicht reden will, der sollte auch mit seiner Kritik an den Sozialkürzungen hinter dem Berg halten.

Wer die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten vorantreibt, der will im Grunde eine andere Republik. Die Ewigkeitsgarantie des Sozialstaatspostulats im Grundgesetz wird von der Bundesregierung in diesen Tagen geschleift. Damit wird neben Völkerverständigung und Friedensgebot die wichtigste Lehre aus dem deutschen Faschismus der Geschichte anheimgegeben: Soziale Gerechtigkeit, Absicherung und Ausgleich sollten nie wieder zur Disposition stehen. Der Sozialstaat wurde aufgebaut, um Menschen zu schützen – nicht, um für neue Kriege geopfert zu werden. Es ist nicht mehr und nicht weniger als das Ende der Bundesrepublik, so wie wir sie kennen, das hier eingeläutet wird.

Einigungsvertrag gebrochen

Wenn es einen zweiten Gründungsakt dieser Republik gibt, so ist der sicher mit dem Einigungsvertrag verbunden. Deutschland ist darin völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen, auch um die Nachbarn in Sicherheit zu wiegen – insbesondere gegenüber der So­wjet­union und ihrem Rechtsnachfolger Russland –, die ihre Truppen bis 1994 abzogen. Drei völkerrechtliche Verpflichtungen wurden eingegangen. Bei allen dreien ist man aber dabei, sie zu brechen. Frieden und Freundschaft auch mit Russland – das war eine der Aufgaben des Einigungsvertrags. Heute diskutiert man einen Kriegseintritt gegen das Land, stationiert deutsche Truppen an der russischen Grenze und droht, der Ukraine Lenkwaffen zu liefern, die Moskau treffen können.

Dann hat sich Deutschland verpflichtet, für immer auf Atomwaffen zu verzichten. Der Fraktionsvorsitzende der größeren Partei der Regierungskoalition, Jens Spahn, hat aber eine Diskussion vom Zaun gebrochen, wie Deutschland sich Zugriff zu Atomwaffen besorgen könne. Und nicht zuletzt hat sich Deutschland verpflichtet, keine ausländischen Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu stationieren. In Rostock richtet man aber ein NATO-Hauptquartier ein, das nicht so heißen darf. Die Stationierung der ausländischen Soldaten wird als Rotation von Verbindungsoffizieren im Dutzend getarnt. Wer soll diese Ausreden glauben? Nein, das hat alles gar nichts mehr mit dem Einigungsvertrag zu tun.

Fakt ist: Deutschland bricht mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag. Was aber, wenn sich andere Vertragsparteien reziprok dann auch nicht mehr an ihre Verpflichtungen gebunden fühlen? Diese Frage vermeidet die Bundesregierung, ist sie doch so naheliegend.

Der Traum der Befreier und Befreiten von der Barbarei des Faschismus war ein Deutschland, das mit „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Faschismus“ seinen Platz unter den Völkern findet. Dieser Traum ist nicht ausgeträumt. Es liegt an uns, uns zu verbünden, um diesem Traum zur Wirklichkeit zu verhelfen.

Die transatlantische Bindung

Wenn wir uns fragen, was in diesen Tagen das Hauptproblem dieses Landes ist, dann kommen wir nicht umhin anzuerkennen, dass es das Vasallenverhältnis der Bundesregierung zu den USA ist. Denn dieses Vasallenverhältnis hat Folgen.

Nehmen wir die Rüstung: In diesen Tagen wurde von Union und SPD ein Rekordrüstungshaushalt verabschiedet – 108 Milliarden Euro für Mordwerkzeuge. Und bald sollen es 225 Milliarden sein, fast die Hälfte des Bundeshaushalts, 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Oft wird vergessen, dass genau dies die Forderung von US-Präsident Donald Trump und des mächtigsten Militärpakts der Welt, der NATO, war.

Dann haben die USA gesagt: Ihr braucht mehr Soldaten, und wieder wird gesprungen, und der Weg zur Wehrpflicht wird eröffnet. Trump will, dass die Deutschen gegen Russland ins Feuer gehen, weil die USA sich mit Lateinamerika und China beschäftigen, und die Bundesregierung springt. Diese Vasallentreue setzt unser Land der höchsten Gefahr aus. Es sind wir, die es am Ende ausbaden sollen, nicht Washington. Um nicht missverstanden zu werden: Die USA sind ein großartiges Land mit großartigen Menschen. Das durfte ich auf meinen zahlreichen Reisen in das Land erfahren. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass die USA alles versuchen, um ihren internationalen Abstieg zu verhindern.

Verbündete und von ihnen geführte Militärpakte wie die NATO werden von ihnen als reines Machtinstrument gesehen. Dabei werden gerade im Verhältnis zu Deutschland alle Machtmittel eingesetzt, auch wenn diese Bundesregierung sich hartnäckig weigert, die Realitäten anzuerkennen.

Ziel der Regierungen Biden und Trump war es, eine Energieversorgung durch Russland zu torpedieren. Offenbar war man da auch zur Unterstützung von Terror bereit, auch wenn es jetzt ein paar Ukrainer auf einem Segelboot gewesen sein sollen. Dann muss man anerkennen, dass sich die Eigentumsstruktur der DAX-Konzerne in den letzten Jahren fundamental gewandelt hat. Es sind die US-Investmentfonds wie BlackRock oder Morgan Stanley, die den Ton angeben, gerade auch in der deutschen Rüstungsindustrie, etwa bei Rheinmetall. Und wir haben es nicht zuletzt mit einem dichten transatlantischen Netzwerk in Politik und Medien zu tun, das dafür sorgt, dass eben zuvorderst die geopolitischen
Inte­ressen der USA und die Profitinte­ressen der US-Investmentfonds bedient werden. Solange dies so bleibt, wie es ist, wird es immer schlimmer werden in diesem Land.

Eine multipolare Alternative

Wir haben eine Situation wie in Lateinamerika der 1970er Jahre. Ohne Emanzipation von den USA wird die Kriegsgefahr immer größer werden, und die Selbstzerstörung unseres Landes nimmt gigantische Ausmaße an. Deshalb ist es hier wichtig, eine Bewegung zu organisieren, die gute Beziehungen zum Globalen Süden und den BRICS-Staaten in den Vordergrund stellt. Denn hier wächst eine multipolare Welt, von der alle in unserem Land profitieren könnten, würde die Bundesregierung Deutschland nicht mit Sanktionen, die den US-Inte­ressen dienen, immer weiter isolieren. Noch ist es Zeit, die Katastrophe aufzuhalten.

Es braucht eine starke Bewegung für ein neutrales, ein souveränes, ein sicheres, ein soziales Deutschland.

Die Willenserklärung der Teilnehmer der Alternativen Einheitsfeier kann hier nachgelesen werden.

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"Nicht dumm machen lassen", UZ vom 24. Oktober 2025



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