Die „Erneuerung“ der „Linken“ trifft nicht nur die Inhalte, sondern auch die Mitglieder. Identitätspolitik wird zum Vehikel des Parteiumbaus

Reaktionär sensibel

Vincent Cziesla, Melina Deymann

Am späten Abend wurde der Parteitag der „Linken“ in Augsburg für anderthalb Stunden unterbrochen. Trotz einer erheblichen Verspätung in der Tagesordnung trafen sich die Delegierten zum sogenannten FLINTA-Plenum. FLINTA ist eine Abkürzung für „Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen“ (Wikipedia). Andere Parteien, andere Sitten, dachten sich die anwesenden UZ-Redakteure und wunderten sich lediglich, was wohl im ebenso geheim tagenden und zeitgleich stattfindenden Männerplenum vor sich ging.

Für Aufklärung sorgten die Delegierten, die mit Fotografien ihrer Sitzungsunterlagen an den Pressetisch kamen. Im Männerplenum waren Aufgabenblätter verteilt worden. „Achtest Du beim Flirten und beim Sex darauf, ob sich Dein Gegenüber beteiligt?“ Diese und weitere Fragen sollten die Teilnehmer mit „zwei Menschen, die Du noch nicht so gut kennst“ diskutieren, um ihre Gedanken anschließend im Plenum vorzutragen. Zum Abschluss sollten sie „zwei Erkenntnisse“ und „zwei konkrete persönliche Schritte“ notieren, um ihre „politische Praxis feministisch weiterzuentwickeln“.

Was das Ganze mit dem Wirken in einer politischen Partei oder gar mit Feminismus zu tun hatte und welche Maßnahmen für Bettgefährtinnen und -gefährten vorgesehen waren, die sich nicht angemessen „beteiligen“, konnten die angesprochenen Delegierten auch nicht sagen. Als „übergriffig“ empfanden einige die Fragen. Ein Delegierter zeigte sich einfach „erleichtert“, dass er „da nicht hingegangen“ war.

Die übergroße Mehrheit jedoch sprach gar nicht und kam anscheinend geläutert aus dem Plenum. Das war auch hilfreich, denn während die Männer an ihren Liebhaberqualitäten gearbeitet hatten, hatte das FLINTA-Plenum über einen „Leitfaden zum Umgang mit Sexismus und sexistischer Gewalt in der LINKEN“ diskutiert. Kontrovers und emotional sei das gewesen, erzählten die Berichterstatterinnen am nächsten Tag. Worüber gestritten wurde, sagten sie nicht, weil das FLINTA-Plenum ein geschützter Raum sei.

Der angesprochene „Leitfaden“ wurde auf Antrag des Parteivorstandes in die Debatte eingebracht. Kern des Papiers ist die Einrichtung von sogenannten „Vertrauensgruppen“, an die sich Betroffene von Sexismus wenden sollen. „Sexistische Gewalt“ wird in diesem Leitfaden sehr breit ausgelegt: von sexueller Nötigung durch Abgeordnete bis hin zu Männern, die viel Redeanteil haben, aber keine Protokolle schreiben.

Wer zukünftig des Sexismus beschuldigt wird, soll von den „Vertrauensgruppen“ vorgeladen und mit dem Leid der Betroffenen konfrontiert werden. Verteidigungsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen, stattdessen sollen die Schilderungen der betroffenen Person im Mittelpunkt stehen. Unter Umgehung von üblichen Schiedsverfahren wird den beschuldigten Parteimitgliedern lediglich die Möglichkeit eingeräumt, „Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen“. Einen Anspruch auf Aufklärung haben sie nicht: „Grenzverletzungen sind subjektiv. In der Regel kann es nicht darum gehen, die Objektivität eines subjektiv geschilderten Tatzusammenhangs zu ermitteln.“ Deshalb ergebe auch die „Unschuldsvermutung keinen Sinn“. In der Fußnote heißt es deshalb treffend: „Die Feministische Kommission konnte sich auf keinen festen Begriff einigen. Die Begriffe beschuldigte Person, gewaltausübende Person und Täter werden deshalb in diesem Leitfaden synonym füreinander verwendet.“ Wenn die beschuldigte Person sich kooperativ zeigt, soll eine „erneute Integration in die Struktur“ möglich sein. Wenn nicht, droht der Leitfaden mit „weitreichenden Maßnahmen“, die noch in der Satzung verankert werden sollen.

Kritiker fürchten, dass mit dem schwammigen Sexismusvorwurf und der Umgehung von Prinzipien der Schiedsgerichtsbarkeit unbequeme Parteimitglieder zum Schweigen gebracht werden sollen. Dass diese Befürchtungen nicht unberechtigt sind, zeigten frühere Versuche, innerhalb der „Linken“ gegen Sexismus vorzugehen. Beim Parteitag des NRW-Landesverbandes waren in diesem Jahr beispielsweise rote Karten verteilt worden, auf denen „Sexistische Kackscheiße“ stand. Diese sollten bei sexistischen Reden im Plenum hochgehalten werden. Das Ergebnis: Sie gingen immer in die Höhe, wenn Reden entgegen der Mehrheitslinie gehalten wurden.

Trotz mehrerer Anträge, den Leitfaden nicht zu beschließen, sondern zunächst umfassend zu diskutieren, wurde er mit überwältigender Mehrheit und unter Jubelrufen angenommen. Abgelehnt wurde hingegen ein Antrag aus Hamburg, der festhalten wollte, dass die „Linke“ aus einer egalitären frauenpolitischen Tradition kommt. Die Antragssteller ernteten heftigen Widerspruch der Feministischen Kommission. Feminismus sei „einst“ Frauenpolitik gewesen, heute gehe es um mehr Geschlechter. Das von all den Geschlechtern nur eins signifikant schlechter bezahlt wird, war der Feministischen Kommission keine Erwähnung wert. Gemeinsam mit der Unschuldsvermutung und dem Recht auf Verteidigung wurde auch die Frauenpolitik der Linkspartei unauffällig entsorgt. Die „Erneuerung“ geht voran.

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"Reaktionär sensibel", UZ vom 1. Dezember 2023



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