Über die Top Ten der vernachlässigten Nachrichten

Relevantes Vergessen

Einmal im Jahr wird der stolze „Deutschlandfunk“ weinerlich und übt Selbstkritik. Denn es ist ein Skandal: Die Medien vergessen Nachrichten. Oder besser: Die Medien „vergessen“ Nachrichten.

Gemeinsam mit der in der Eigendarstellung medienkritischen Nichtregierungsorganisation „Initiative Nachrichtenaufklärung“ (INA) stellte die DLF-Redaktion Anfang April die „Top Ten der vergessenen Nachrichten“ vor, zusammengestellt von einer Expertenjury und Wissenschaftlern. Wer will, kann diesem Gremium zuraten und auf www.derblindefleck.de, der Homepage der INA, Hinweise geben, welche Nachrichten vernachlässigt wurden. Doch allzu oft müssen Vorschläge abgelehnt werden, weil Verschwörungsgedanken oder persönliche Animositäten dahinterstehen, warnt der „Deutschlandfunk“-Nachrichtenchef. Demokratisch ist, was den Rahmen nicht verlässt.

Es bleibt also Ermessen der Experten, was in den Rang des „Leider vergessen worden“ kommt – eine runde Sache. Denn mit dieser jährlichen Auflistung behalten die, die Nachrichten systematisch nach ihren eigenen Kriterien aussuchen oder unterdrücken, auch die Hoheit über das, was fehlte – denn mehr geschah nicht in der Welt. Praktisch ist, wenn die Regierung auch die Opposition stellt.

Natürlich vergessen die Medien Nachrichten nicht, sondern ihre Redaktionen kommen gar nicht erst dahin, wo Wahrheit konkret wird. Sie schreiben voneinander und von dem ab, was täglich von Reuters und Co. aus dem Ticker kommt; die meisten Journalistinnen und Journalisten recherchieren nicht weiter als Wikipedia reicht. Und wer über sein Volontariat hinauskommen will, sollte nicht nur um die Vorzüge der westlichen Wertegemeinschaft wissen und Berichten von dort mit grundsätzlicherer Sympathie begegnen als solchen aus dem Rest der Welt, sondern muss das zudem so verinnerlichen, dass es überzeugend an die nächste Volontärsgeneration weitergereicht werden kann. Gabriel García Márquez beschrieb in „Hundert Jahre Einsamkeit“, wie die Augenzeugen des Massakers an den „United Fruit“-Arbeitern 1928 am Ende selbst nicht mehr glaubten, was sie gesehen hatten.

Wer am Schluss der INA-Webseite die Verlinkungen nutzt, kommt zu den „Deutschlandfunk“-Nachrichten, die mit „Alles von Relevanz“ überschrieben sind. Darum geht es schließlich: Wichtiges dem zu opfern, was für relevant erklärt wird.

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"Relevantes Vergessen", UZ vom 12. April 2024



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