Von allen seltsamen Traditionen ist die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers die, die am meisten aus der Zeit gefallen ist. Als würde die Regierungspropaganda nicht schon das ganze Jahr aus dem Radio dudeln, über die Mattscheiben flimmern und durch die Druckerpressen der großen Gazetten rattern. Als wäre es wirklich notwendig, Olaf Scholz (SPD) neben EU- und Deutschlandfahne zu drapieren, um den Deutschen zu erklären, was sie denken und hoffen sollen, während die ... Bitte hier anmelden
Rede selbst weder Anlass zum Denken noch zur Hoffnung bietet.
Für den Großteil der Bevölkerung dürften die Erzählungen des Kanzlers ohnehin gewirkt haben wie Botschaften aus einer Parallelwelt. „Erinnern Sie sich, wo wir vor einem Jahr standen?“, kumpelte Scholz die Deutschen an. Die Prognosen seien schlecht gewesen, viele „befürchteten, die Preise würden immer weiter steigen“. Es habe Sorgen „vor kalten Wohnungen“ gegeben, raunte der Kanzler. Und genauso war es dann ja auch, oder? Nicht bei Scholz: „Es ist anders gekommen.“ Man habe sich gegen den Wirtschaftseinbruch gestemmt und Energie gespart. Löhne und Renten seien gestiegen, freute sich der Kanzler, ohne zu erwähnen, dass die Preisanstiege deutlich höher waren.
Das hätte auch die sonst optimistische Erzählung gestört. „Wir in Deutschland kommen da durch“, sagte der Kanzler, der hinter sämtlichen Missständen seiner Regierungszeit das bösartige Wirken fremder Mächte vermutete. Natürlich zuerst Russland, das „einen unerbittlichen Krieg vom Zaun“ gebrochen habe. „Kurz darauf dreht uns der russische Präsident den Gashahn ab“, setzte sich das Jammertal des Kanzlers fort, ohne auf den von der Ampel forcierten Wirtschaftskrieg oder das unter deutscher Aufsicht missachtete Minsk-II-Abkommen einzugehen. Und dann habe es „auch noch den brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel“ gegeben. Auf die zehntausenden vom israelischen Militär getöteten Palästinenser ging er gar nicht ein. Der in Gaza stattfindende Völkermord ist für den Kanzler eine im Nebensatz erwähnte „kriegerische Auseinandersetzung im Nahen Osten“.
Aber alles halb so wild, schlug der Kanzler heitere Töne an, denn: „Wir kommen auch mit Gegenwind zurecht.“ Es folgte eine Aufzählung von „Erfolgen“, wobei sich frei Erfundenes mit zynischem Nach-unten-Treten abwechselte. Stolz war Scholz darauf, dass es „kurz vor Weihnachten“, gelungen sei, sich „auf eine tiefgreifende Reform des Europäischen Asylsystems“ zu einigen. Auch die wiedereingeführten Grenzkontrollen trugen zur Weihnachtsstimmung bei: „Schon in den vergangenen Wochen ist die Zahl derer, die über diese Grenzen kommen, spürbar gesunken.“
Für die deutschen Arbeiter hatte Scholz vor allem warme Worte parat. Ob Paketbotin oder Altenpfleger, dem Kanzler war es „wichtig, dass ihre Leistung gesehen und anerkannt wird“. So schön wurde seit Corona nicht mehr geklatscht. Eine Überraschung hatten die Redenschreiber aber auch noch versteckt: „Von morgen an zahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland 15 Milliarden Euro weniger an Steuern.“ Eine besonders dreiste Nebelkerze, hatte die Ampel doch gerade erst ihren Haushalt durch die Erhöhung von Co2- und Verbrauchssteuern gerettet. Dass das zu deutlichen Mehrbelastungen führt, bestätigte am Montag das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das ermittelt hatte, „dass gerade Alleinerziehende und Familien mit einem geringen Einkommen unter dem Strich am stärksten belastet werden“, während „Gutverdiener besser als andere davonkommen“.
Doch von der Wahrheit ließ sich der Kanzler nicht irritieren, während er von einer EU schwärmte, die „ein echtes Pfund“ sei. Schade nur, dass derartiges Gerede immer weniger verfängt. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA im Auftrag der „Bild“ fragte zum Jahreswechsel nach den wichtigsten Themen für die Bundespolitik im Jahr 2024. Nur 16 Prozent der Befragten sorgten sich um eine „Stärkung der EU“, noch weniger (15 Prozent) hielten die „Unterstützung der Ukraine“ für wichtig. Die drei am häufigsten genannten Themen waren mit deutlich über 50 Prozent Zustimmung die „Bekämpfung der Inflation“, die „Schaffung von bezahlbarem Wohnraum“ und die „Sicherung der Rente“.
Bei aller gebotenen Skepsis zeigt die Umfrage einen Trend, der auch schon in vergangenen Erhebungen deutlich wurde: Die Mehrheit will keinen Krieg führen und stattdessen soziale Verbesserungen. Dazu hat Scholz jedoch nichts zu sagen.