Prozess nach tödlichem Polizeieinsatz in Dortmund: Vier Sozialarbeiter sagen aus

Sie hätten einfach das Tor schließen können

Wie unverhältnismäßig der tödliche Polizeieinsatz gegen den 16-jährigen Geflüchteten Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 in Dortmund von Anfang an war, ist am fünften Prozesstag zur Sprache gekommen. An jenem 8. August hatte der Jugendliche an einer Mauer im Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung gelehnt und sich ein Küchenmesser an den Bauch gehalten. Ein Dutzend Polizisten rückte an und setzte zunächst Reizgas und Taser ein. 0,717 Sekunden nach dem zweiten Tasereinsatz soll Fabian S. sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole auf den Jugendlichen abgegeben haben. Dramé starb kurz darauf. Fünf Polizisten müssen sich seit zwei Monaten vor dem Landgericht Dortmund für den tödlichen Einsatz verantworten.

Bis zum Pfeffersprayeinsatz habe er keine Aggressivität seitens des Opfers wahrgenommen, sagte ein Sozialarbeiter der Einrichtung im Zeugenstand aus. Er bekam eine Einsatzbesprechung der Polizei vor Ort mit und ist sich sicher, dass die Beamten gar nicht erst in Erwägung zogen, externe Hilfe hinzuzuziehen. Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der bei dem Prozess am Landgericht Dortmund zusammen mit Rechtsanwältin Lisa Grüter die Nebenklage vertritt, wollte wissen: Hätten die Polizisten den an drei Seiten geschlossenen Innenhof so sichern können, dass eine Gefährdung Dritter ausgeschlossen gewesen wäre? Die lapidare Antwort des Sozialarbeiters: Mouhamed hätte den Innenhof nicht verlassen können, hätten die Einsatzkräfte das mit Eisenspitzen versehene Tor zum Hof geschlossen.

Bevor Dramé „eingepfeffert“ wurde, sollen Polizisten zwei kurze, erfolglose Ansprechversuche unternommen haben. Von Zeugin A. wollte Staatsanwältin Gülkiz Yazir wissen, ob sie denke, der Versuch der Kontaktaufnahme der Polizei hätte gelingen können, hätten die Beamten es länger probiert. „Ich bin Sozialarbeiterin“, antwortete A. leicht entrüstet: „Ja.“ Mouhamed sei nach dem Versuch ihres Kollegen, per Google Translate mit ihm zu kommunizieren, schließlich schon „etwas lockerer“ gewesen, ergänzte sie.

In einem wesentlichen Punkt widersprachen sich die vier Zeugen, die am 21. Februar geladen waren. Sie alle arbeiteten zum Tatzeitpunkt in der Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt. Der Leiter der Einrichtung will gesehen haben, dass Mouhamed sich nach dem Reizgaseinsatz schnell in Richtung der Polizisten bewegte. Ein weiterer Sozialarbeiter bestätigt das, räumt aber auf Nachfrage ein, dass er das nicht beobachtet hat, sondern nur vermutet. Der Kollege von ihm, der die Einsatzbesprechung mitbekam und wohl am nächsten an Mouhamed und den Polizisten dran war, ist sich hingegen sicher, dass das Opfer sich langsam bewegt und desorientiert gewirkt habe.

Für den Ausgang des Strafprozesses sind zwei Punkte entscheidend: War der Einsatz von Anfang an unverhältnismäßig und damit rechtswidrig? Dann ist das Tempo, mit dem Dramé sich auf die Beamten zubewegte, unerheblich, weil er selbst in Notwehr gehandelt haben könnte. Sollte das Gericht hingegen feststellen, dass der Einsatz legitim war, hängt es von seinem Tempo ab, ob der Schütze sich auf Notwehr berufen kann. Einer der Verteidiger gab deshalb eine Prozesserklärung ab: Die Vernehmungen hätten gezeigt, dass der Zeugenbeweis „der mit Abstand unsicherste Beweis in Strafprozessen“ sei. Aus den widersprüchlichen Aussagen ließen sich keine validen Rückschlüsse über das Tempo Dramés ziehen.

Nach dem fünften Prozesstag bleibt der Eindruck, dass die Angeklagten Aufwind haben. Das liegt auch an der Prozessführung des Richters Kelm. Eine Strategie ist noch immer nicht erkennbar – abgesehen von der offensichtlich gewollten Intransparenz und Verzögerung. Einen Antrag der Nebenklagevertreter, allen Anwesenden mittels im Saal vorhandener Technik Fotos, Videos und ein vom Landeskriminalamt angefertigtes 3D-Modell vom Tatort zugänglich zu machen, ignoriert das Gericht bislang. Das erschwert Pressevertretern und Besuchern, der Verhandlung zu folgen. Und es zieht den Prozess in die Länge, weil Zeugen, Staatsanwaltschaft und Anwälte für jedes Foto zur Richterbank gehen müssen. Ursprünglich sollte der Prozess bis Ende April laufen, jetzt sind Termine bis Mitte September angesetzt. Das 3D-Modell möchte Richter Kelm vorerst gar nicht nutzen. Sein Spiel auf Zeit ist respektlos gegenüber Prozessbeobachtern – und vor allem gegenüber dem Opfer und dessen Familie.

Weitere Infos unter:
unsere-zeit.de/thema/mouhamed-lamine-drame

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"Sie hätten einfach das Tor schließen können", UZ vom 1. März 2024



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