Zur Haltung der Bundesregierung gegenüber Israels Völkermord

Staatsräson über alles

Hat Friedrich Merz die bedingungslose Solidarität mit Israel aufgekündigt? Die Aufregung war groß, als der Bundeskanzler Anfang Dezember die „Existenz und Sicherheit Israels“ als „Wesenskern unserer Beziehungen“ bezeichnete – nicht aber mehr den Reizbegriff „Staatsräson“ nutzte. Weder gegenüber Israels Staatspräsident Herzog noch bei seinem Treffen mit Ministerpräsident Netanjahu. Auch ins Gästebuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem schrieb Merz lediglich vom „Wesenskern“.

Aber wurde damit tatsächlich ein Kurswechsel, weg von der erstmals vom deutschen Botschafter Rudolf Dreßler beschworenen, 2007 von Angela Merkel und später auch von Olaf Scholz und Merz übernommenen „Staatsräson“ vollzogen? Bestimmen heute die Leitlinien internationalen Rechts die deutsche Politik gegenüber Israel oder gilt weiter der von Machiavelli als „Staatsräson“ bezeichnete Absolutismus, dass die Rechte Einzelner zurückstehen müssen und Gesetze im „Staatsinteresse“ außer Kraft gesetzt werden können?

Dass die deutsche „Staatsräson“ die Nichtzurkenntnisnahme von Gesetzen – in diesem Fall des internationalen Rechts – billigend in Kauf nimmt, wenn es darum geht, Israel und seine rechtsradikale Regierung bedingungslos zu unterstützen, hat der Gaza­krieg zweifelsfrei verdeutlicht. Nach dem Oktober 2023 hat Berlin die Waffenlieferungen nach Israel verzehnfacht. Der Teil-Rüstungsexportstopp vom August 2025 wurde nie eingehalten und nach nur wenigen Monaten wieder aufgehoben. Die Bundesregierung hat den Völkermord-Ankündigungen hochrangiger israelischer Politiker und Militärs vom Oktober 2023 keine ernsthaften Widerworte entgegengesetzt. Und selbst für Israels Einsatz von Hunger als Waffe hatte man in Berlin allenfalls ein paar mahnende Worte übrig. EU-Sanktionen, ob die Aussetzung des Assoziierungsabkommens, ein Teilausschluss Israels aus dem Forschungsprogramm „Horizon“ oder Strafmaßnahmen gegen israelische Siedlerminister, blockiert Berlin bis heute. Und das, obwohl Israel die Annexion des Westjordanlands immer schamloser vorantreibt, sein Apartheidsystem ausbaut und den Genozid in Gaza fortführt.

Nicht einen Tag haben die Waffen geschwiegen. Weiterhin lässt Tel Aviv nur einen Bruchteil der benötigten Hilfsgüter in die Küstenenklave. Amnesty International ist zu dem Schluss gekommen, dass die israelische Regierung in Gaza weiterhin Bedingungen schafft, die auf die physische Zerstörung der Palästinenser abzielen.

Aber Merz, der Israel zuvor gelobt hatte, unsere „Drecksarbeit“ zu verrichten, befand kurz nach Inkrafttreten des nie eingehaltenen Waffenstillstands, es gebe keinen Grund mehr, für die Palästinenser zu demonstrieren. Zu diesem Zeitpunkt waren noch nicht einmal die ersten Hilfslieferungen nach Gaza gelassen worden. Und Mitte November stimmte Deutschland zum ersten Mal nicht für eine Verlängerung des Mandats des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge – obwohl der Internationale Gerichtshof die Organisation in einem Rechtsgutachten für „unersetzbar“ befunden hat.

Merz geht es ausschließlich darum, die eigene Bevölkerung zu „beruhigen“. Denn 62 Prozent der Deutschen bezeichnen Israels Vorgehen im Gazastreifen als Völkermord. Zwei Drittel haben eine (eher) negative Meinung zu Israel. Und 69 Prozent wünschen sich eine Außenpolitik, die sich – statt auf Staatsräson – ausschließlich auf Völkerrecht und universelle Menschenrechte stützt. Dies ist der Hintergrund, vor dem der Austausch eines ohnehin nie ausdefinierten Begriffs erfolgt – ein (hoffentlich erfolgloser) Täuschungsversuch.

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"Staatsräson über alles", UZ vom 26. Dezember 2025



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