Zur „Bild“-Kampagne gegen Nemi el-Hassan

Staatsräson zum Nulltarif

Mit den Worten „Das Vertrauen für eine künftige Zusammenarbeit ist nicht mehr vorhanden“ trennte sich der WDR von Frau Nemi el-Hassan – bevor die Zusammenarbeit überhaupt begonnen hatte. Frau Hassan, eine Journalistin und Ärztin mit palästinensischem Familienhintergrund, hätte eine Wissenschaftssendung moderieren sollen. 2020 wurde sie für den Grimme-Preis nominiert – doch jetzt war sie von einem Tag auf den anderen die „umstrittene Journalistin“.

Hintergrund war eine Kampagne der „Bild“, die sie des Antisemitismus anklagte. Der Vorwurf: ihre Teilnahme an einer Al-Quds-Demonstration 2014, auf der antisemitische Parolen gerufen worden seien. Der „Islamismus-Skandal“ war geboren, weitere Facetten wurden montiert. Videoschnipsel wurden ausgewählt, um das Bild der antisemitischen Islamistin zu erschaffen. Im Hintergrund der „Bild“-Kampagne agierten – wie „Zeit-Online“ ermittelte – rechtsextreme YouTuber. Sie hatten Frau Hassan und andere schon 2014 ins Visier genommen und Fotos von der Al-Quds-Demo gemacht. Zu sehen ist sie auf einem Bild von dieser Demonstration neben Plakaten, auf denen steht: „Frieden und Freiheit gibt es nicht ohne Gerechtigkeit“.

Noch schwerer wiegt der Vorwurf gegen Frau Hassan, sie habe Posts der in den USA beheimateten Organisation „Jewish Voice for Peace“ geliked. Eine Palästinenserin unterstützt Aussagen einer jüdischen Organisation – das ist der neue Antisemitismus? Selbstverständlich, denn „Jewish Voice for Peace“ diskutiert – wie andere jüdische und israelische Organisationen, Wissenschaftler und Persönlichkeiten – den Boykott von Waren aus Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten ganz anders, als unsere Staatsräson es verlangt.

Die Rechtsextremisten, die den Anstoß für die Kampagne der „Bild“ gaben, instrumentalisieren angeblichen Antisemitismus, um reale Feindseligkeit zu verbreiten. Dabei treffen sie auf offene Türen. Die „Jüdische Allgemeine“, die die Vertragskündigung durch den WDR begrüßt, schrieb in einem Kommentar: „Es brauchte die öffentliche Empörung aus Medien und Politik, um ihre Tätigkeit als Moderatorin zu verhindern.“ Und diesen öffentlichen Hype um die „umstrittene Journalistin“ gab es zum Nulltarif.

Gewiss, es gibt freie Rede, Diskurs und was dergleichen mehr ist. Aber in Wirklichkeit wird linke Kritik an der israelischen Besatzungspolitik von vornherein unter den Generalverdacht des Antisemitismus gestellt. Jeder, der Veranstaltungen zu dem Thema organisiert oder Texte dazu verfasst, weiß das. „Es gab etwa keinen ehrlichen Diskurs darüber, wie sich Antisemitismus von israelkritischen Positionen abgrenzen lässt. Oder worin etwa die deutsche Verantwortung gegenüber Menschenrechtsverletzungen in Israel/Palästina besteht.“, schreibt Frau Hassan dazu in einem Offenen Brief.

Als wenn es dessen überhaupt bedurft hätte, erhielt sie die Unterstützung von Wissenschaftlern und Politikern, die akribisch die Vorwürfe gegen sie als haltlos nachwiesen. Diese Stimmen wurden nicht gehört – wie auch die Realität der israelischen Besatzung nicht gesehen wird. Mit ihrer Herkunft, ihrer Geschichte und ihren Positionen symbolisiert Frau Hassan die Kritik an der israelischen Besatzungspolitik. Und das ist des Pudels Kern.

Die rechtsextremen YouTuber, die die Kampagne der „Bild“ initiiert haben, haben die deutsche Staatsräson nicht etwa gekapert, sondern auf den Punkt gebracht. Das hat ihnen den mehr oder weniger offenen Beifall weiter Teile der Öffentlichkeit eingebracht. Es steckt viel Rassismus in der Mitte der Gesellschaft.

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"Staatsräson zum Nulltarif", UZ vom 12. November 2021



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