Nach dem 7. Oktober 2023 wurde die bis dahin „umstrittene“ Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ in Deutschland vollends kriminalisiert. Anfang November 2023 erklärte das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser (SPD) sie kurzerhand zu einem Hamas- und Samidoun-Symbol. Seither wurden deutschlandweit mutmaßlich tausende Anzeigen erstattet und teilweise sogar Hausdurchsuchungen durchgeführt, weil Menschen diesen Satz oder auch nur Teile davon auf Demonstrationen riefen, in Wortbeiträgen verwendeten, auf T-Shirts und Taschen trugen oder im Internet posteten.
Dieser enorme Aufwand an Repression steht in keinerlei Verhältnis zur Zahl der rechtskräftigen Verurteilungen wegen dieses Slogans. Die dürfte nämlich, wenn man Strafbefehle beiseite lässt, bundesweit im ein- bis zweistelligen Bereich liegen. In den allermeisten Fällen wurden die Angeklagten freigesprochen oder die Verfahren eingestellt. Dabei kamen nahezu alle Gerichte zu dem Schluss, dass es sich bei der Phrase „From the river to the sea“ nicht um ein Kennzeichen der Hamas handelt.
Repressionshauptstadt Berlin
Besonders eifrig bei der Kriminalisierung und Verfolgung der Parole ist bis heute Berlin. Die Bundeshauptstadt quillt vor Polizei geradezu über: 723 Beamte kommen auf 100.000 Einwohner (Stand Juni 2024), doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Nicht wenige davon beschäftigen sich regelmäßig damit, friedliche Demos anzugreifen, Palästina-Aktivisten ins Krankenhaus zu prügeln, Kerzen für ermordete Kinder in Gaza auszutreten – und Anzeigen zu schreiben.
Trotzdem urteilen auch die Berliner Gerichte regelmäßig im Sinne der Angeklagten, die sich wegen dieser Parole verantworten müssen. Auch ein Gutachten des Landeskriminalamts (LKA) Berlin vom November 2024, das UZ vorliegt, stellte fest, dass der Halbsatz „From the river to the sea“ von verschiedensten Akteuren verwendet wird. Zudem bliebe die Frage, welche Bevölkerungsgruppen in diesem Palästina zwischen Jordan und Mittelmeer leben und „in den Genuss dieser proklamierten ‚Freiheit‘ kommen sollen“ und auch, „mit welchen friedlichen oder gewalttätigen Mitteln diese erreicht werden kann“, letztlich „offen für Interpretation.“ In solchen Fällen sieht das Gesetz das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ vor.
Anwälte haben genug
Weil Staatsanwaltschaft und Polizei dennoch nicht müde werden, friedliche Demonstranten zu verfolgen und vor Gericht zu stellen, haben nun 51 Anwälte einen Offenen Brief an die Berliner Verfolgungsbehörden gerichtet. Darin wenden sie sich „mit der Forderung des sofortigen Endes der Strafverfolgung dieser Parole“ an Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel, Oberstaatsanwalt Jörg Raupach und Staatsanwalt Ingo Kühn. „Eine entsprechende Weisung ist unverzüglich zu erteilen und zur Klarstellung öffentlich bekannt zu machen“, verlangen die Juristen. „Anklagen und Strafbefehlsanträge sind zurückzunehmen.“
Sie halten der Exekutive unter anderem vor, mit ihrer anhaltenden Verfolgung gegen das Grundgesetz zu verstoßen. Das schreibt vor, dass sich die Staatsgewalt an geltendes Recht und Gerichtsurteile zu halten hat. Außerdem kritisieren sie die „Medienhetze“ gegen den Richter, der am 30. Juli die Berliner Palästina-Aktivistin Yasemin Acar freigesprochen und ihr dabei seine „Hochachtung“ ausgesprochen hatte.
Die Polizei reagierte mittlerweile auf den Brief. Behördensprecherin Anja Dierschke erklärte, solange ein „Anfangsverdacht einer Straftat“ vorliege, sei man „verpflichtet, diese zu verfolgen und deren Fortsetzung zu verhindern“.
Der Offene Brief in voller Länge:
Sehr geehrte Frau Präsidentin der Berliner Polizei Slowik Meisel, sehr geehrter Herr Leitender Oberstaatsanwalt in Berlin Raupach, sehr geehrter Herr Abteilungsleiter Kühn,
wir, diverse Rechtsanwält:innen, welche in Verfahren wegen des Vorwurfs der Verwendung der Parole „From the river to the sea“ verteidigen oder die juristische sowie gesellschaftliche Debatte dazu interessiert betrachten, wenden uns mit diesem Offenen Brief an Sie mit der Forderung des sofortigen Endes der Strafverfolgung dieser Parole.
Am 30. Juli 2025 verkündete die Abteilung 286 des Amtsgerichts Tiergarten abermals den Freispruch einer Aktivistin, welche mehrfach den Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ verwendet hatte – weil dieser nicht strafbar sei. Auf einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude aus Anlass desselben Verfahrens verbreitet sich die Nachricht von dem freisprechenden Urteil und eine Person ruft daraufhin die Parole aus. Sie wird unmittelbar festgenommen und zur Gefangenensammelstelle zwecks Durchführung einer erkennungsdienstlichen Behandlung verbracht. Wie ist dieser Vorgang mit der in Art. 20 Abs. 3 GG festgeschriebenen Gesetzesbindung der Staatsanwaltschaft und der Polizei vereinbar?
Seit Oktober 2023 haben Deutschlands Staatsanwaltschaften, allen voran die Staatsanwaltschaft Berlin, massenhaft Strafverfahren wegen des Rufens, Zeigens oder Veröffentlichens der Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ (oder Variationen derselben) eingeleitet. Vermutlich handelt es sich um mehrere tausend Verfahren, die in Berlin, aber auch im Rest von Deutschland geführt werden.
Aufgrund dieser Verfahren wurden und werden pausenlos Menschen auf Demonstrationen festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt, Strafbefehle und Bußgelder verhängt, Wohnungen durchsucht, Festplatten und Mobiltelefone beschlagnahmt, Einbürgerungen oder die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen suspendiert, Demonstrationen untersagt oder aufgelöst. Die Festnahmen auf Demonstrationen erfolgen dabei in den meisten Fällen unter Anwendung unmittelbaren Zwangs mit der Folge von körperlichen Verletzungen und mehrstündigen Freiheitsentziehungen.
Das Amtsgericht Tiergarten hat unterdessen in den vergangenen Wochen nach jeweils umfassenden Beweisaufnahmen mehrfach geurteilt: Der Slogan „From the river to the sea“ ist kein Kennzeichen der Hamas. Die beschuldigten Personen, die den Slogan meist mit dem Nachsatz „Palestine will be free“ im Rahmen von öffentlichen Kundgebungen gegen das israelische Vorgehen im Gaza-Streifen verwendet hatten, wurden daher jeweils aus tatsächlichen Gründen freigesprochen (siehe Amtsgericht Tiergarten, Urteile vom 23. Juli 2025 – 222 Cs 1135/24; vom 9. Juli 2025 – 235 Cs 1055/24 – Anlage 1; vom 20. Juni 2025 – 255 Cs 1/25 – Anlage 2; vom 21. Mai 2025, – 238 Cs 1148/24 – Anlage 3. Dem folgend haben nunmehr weitere Abteilungen des Amtsgerichts Tiergarten mit Beschluss vom 21. Juli 2025 (394 Ds 3/25 – Anlage 4) und vom 25. Juli 2025 (235 Ds 1077/24) Anklagen der Staatsanwaltschaft Berlin nicht zur Hauptverhandlung zugelassen. Es folgte das eingangs erwähnte Urteil vom 30. Juli 2025 (286 Ds 46/25).
Das Amtsgericht Tiergarten ist dabei sehr gründlich vorgegangen. Es hatte ein Sachverständigengutachten einer Expertin des Landeskriminalamts (LKA) Berlin zu der Frage der Geschichte des Slogans und zu dessen gegenwärtiger Nutzung eingeholt. Es ist auf dieser Grundlage in allen Fällen zu dem Schluss gekommen, dass die Annahme der Staatsanwaltschaft und des Bundesinnenministeriums, bei dem Slogan handele es sich um ein Kennzeichen der Hamas, jeder Grundlage entbehrt.
Damit ist auch das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. November 2024, auf welches sich die Berliner Staatsanwaltschaft regelmäßig beruft, überholt. Denn zu diesem Zeitpunkt war das von dem Amtsgericht Tiergarten eingeholte Sachverständigengutachten des Berliner LKAs noch gar nicht bekannt. Dieses Urteil weist zudem an der entscheidenden Stelle einen gravierenden Darlegungsmangel auf. Die Annahme des Landgerichts, die Hamas habe sich den Slogan durch Übung zu eigen gemacht, wird in dem Urteil empirisch nicht unterlegt (siehe ausführlich dazu die Urteilsbesprechung von Brockhaus, Robert).
Dagegen analysiert das seitens des Amtsgerichts Tiergarten herangezogene Gutachten systematisch alle ersichtlichen Verwendungen des Slogans seit Gründung der Organisation und kommt zu dem Ergebnis, dass sich eine regelmäßige Verwendung des Slogans durch die Hamas als Kennzeichen nicht feststellen lässt.
Die Befunde des Gutachtens und des Amtsgerichts Tiergarten sind eindeutig – die Verwendung des Slogans ist divers, seine Bedeutung ist mannigfaltig. Eine regelmäßige Übung, welche seine Zuordnung als Kennzeichen der Hamas erlauben würde, ist empirisch widerlegt. Kein anderes Land weltweit ist im Übrigen bislang auf die Idee gekommen, den Slogan als Kennzeichen der Hamas zu verfolgen. Entsprechend äußert nunmehr eine andere Kammer des Landgerichts Berlin ebenfalls deutliche Zweifel an der Strafbarkeit des Slogans (Beschluss vom 23. April 2025, 504 Qs 75/25).
Die Weisungslage gegenüber der Berliner Polizei ändert sich jedoch nicht, obwohl ein Anfangsverdacht nicht mehr begründet werden kann. Weiterhin kommt es zu massiver Strafverfolgung und gewaltsamen Festnahmen – als wenn die jüngsten Urteile des Amtsgerichts Tiergarten nicht ergangen wären. Wann ist der Punkt erreicht, an dem diese Praxis als eine Verfolgung Unschuldiger im Sinne des Paragraphen 344 StGB einzustufen ist?
Wir fordern somit den umgehenden Stopp der Verfolgung von Menschen, welche diesen Protestslogan verwenden. Eine entsprechende Weisung ist unverzüglich zu erteilen und zur Klarstellung öffentlich bekannt zu machen. Anhängige Anklagen und Strafbefehlsanträge sind zurückzunehmen. Gleichzeitig verwehren wir uns in aller Deutlichkeit gegen die Medienhetze, welche sich nunmehr über den Richter des freisprechenden Urteils von gestern ergießt. Das Urteil ist nach objektiven und rechtsstaatlichen Kriterien ergangen. Auch diesbezüglich wäre daher eine klarstellende Stellungnahme der Berliner Strafverfolgungsbehörden zu begrüßen.
Berlin, den 4. August 2025
Rechtsanwalt Ahmed Abed
Abogada Rina Ajeti
Rechtsanwältin Maja Beisenherz
Rechtsanwalt Yeelen Binh
Rechtsanwältin Dr. Karoline Boerwick
Rechtsanwalt Michael Brenner
Rechtsanwalt Mathes Breuer
Rechtsanwalt Robert Brockhaus
Rechtsanwalt Ammar Bustami
Rechtsanwältin Christina Clemm
Rechtsanwältin Nevin Duran
Rechtsanwalt Benjamin Düsberg
Rechtsanwältin Christine Engels
Rechtsanwältin Jasmin El-Hussein
Rechtsanwalt Claus Förster
Rechtsanwalt Alexander Górski
Rechtsanwältin Jessica Grimm
Rechtsanwalt David Hölscher
Rechtsanwalt Julian Hölzel
Rechtsanwältin Nasrin Karimi
Rechtsanwältin Carolin Kaufmann
Rechtsanwalt Tilman Kohls
Rechtsanwalt Ulrich Kraft
Rechtsanwalt Tobias Krenzel
Rechtsanwältin Dr. Vivian Kube
Rechtsanwältin Anja Lederer
Rechtsanwältin Claudia Lichter
Rechtsanwältin Lilian Löwenbrück
Rechtsanwalt Roland Meister
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Rechtsanwalt Yaşar Ohle
Rechtsanwältin Nina Onèr
Rechtsanwalt Viktor Riad
Rechtsanwält:in Loui Rickert
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Rechtsanwalt Matthias Schuster
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Rechtsanwalt Yener Sözen
Rechtsanwalt Dr. Lukas Theune
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Rechtsanwalt Dirk Zimmermann