K. A. Hartmanns 2. Klaviersonate „27. April 1945“ über den Todesmarsch aus Dachau

„Unendlich war das Leid“

Hanns-Werner Heister

Karl Amadeus Hartmann (1905 bis 1963) war einer der wenigen konsequent antinazistischen Komponisten. 1933 bis 1945 hielt er sich völlig aus dem Musikleben heraus und komponierte im Wesentlichen nur für die Schublade. Seine kritische Grundhaltung war im Prinzip samt einigen musiksprachlichen Elementen bereits Ende der 1920er geformt. Diese Elemente hat er nach 1933 neu konfiguriert sowie erweitert zu einer umfassenden musikalischen Sprache des Widerstands. In ihr finden sich Bach-Choral und proletarischer Trauermarsch, „Internationale“ und nationaler tschechischer „Hussitenchoral“, Bauernkriegslied und jüdisches Lied, Strawinski und Kodály, Prokofiew und Berg, Beethoven und Borodin, Strukturzitate von Chopin, Bartók und Hindemith. In der 2. Klaviersonate sind nicht weniger als drei Sätze über Liedvorlagen komponiert – und zwar über Lieder der revolutionären Arbeiterbewegung; dazu kommt ein Strawinski-Zitat.

Das ist alles Musik, die biologistisch als „entartet“ oder politisch als „kulturbolschewistisch“ verfemt war.

Die Übergabe der Macht an die Nazis durch die konservativen Eliten brachte zwar für Hartmann einen Bruch in seiner Karriere, aber den Durchbruch in seiner Entwicklung als Komponist. Denn gerade mit dem Faschismus hatte er den großen Gegenstand und das bedeutende Thema gefunden und mit Antifaschismus und Widerstand als Ziel das Integral seines Komponierens.

Bezeichnend für Hartmanns Werke ist offene oder unausgeprochene politische Programmatik, die in und mit der Musik auf die Welt verweist – und zwar auf die bestehende Wirklichkeit im Lichte ihrer Verbesserbarkeit: „Hält man der Welt den Spiegel vor, so dass sie ihr grässliches Gesicht erkennt, wird sie sich vielleicht doch einmal eines Besseren besinnen.“ (Kommentar zu seiner „Simplicissimus“-Kammeroper)

Zur Konkretisierung, Differenzierung und Intensivierung der Bedeutungen setzt er einen im Wesentlichen bereits als Traditionsbestand vorliegenden Fächer vielfältiger Verfahren semantischer Aufladung der Musik ein: Widmung und Vokabelbildung, Melodiezitat und Motto, Chiffren und Topoi, Texte und Vortragsbezeichnungen, Genrezitate und Strukturzitate, die zahlreichen Choräle und Choralsatz-Typen, die Tanztypen, Tonsatz- und Formtypen von Fuge bis Toccata.

In vielen Werken verarbeitete er jüdische Musikelemente, etwa in der Kammeroper „Simplicissimus“ (1934/1935), die das in Grimmelshausens Roman (1669) geschilderte „Elend“ des 30-jährigen Kriegs und des NS in Parallele setzt. Und ebenso zitiert er in vielen Werken Lieder der internationalen Arbeiterbewegung, so etwa im anlässlich des Überfalls auf Polen geschriebenen Violinkonzert das „Unsterbliche Opfer“, als „Choral“ nur mäßig gut getarnt (aber manche bürgerlichen KommentatorInnen kennen und merken es nicht). Dieses Werk wurde 1940 in der Schweiz uraufgeführt.

Ein Motto erläutert Titel und Ausgangspunkt der 2. Klaviersonate: „Am 27. und 28. April 1945 schleppte sich ein Menschenstrom von Dachauer ‚Schutzhäftlingen‘ an uns vorüber –/unendlich war der Strom –/unendlich war das Elend –/unendlich war das Leid –“. Hartmann lebte um diese Zeit bei seinen Schwiegereltern in Kempfenhausen bei Starnberg. Dort sah er vom Souterrain aus zusammen mit seinem Sohn Richard, Jahrgang 1935, einen der Evakuierungs- beziehungsweise Todesmärsche aus dem KZ. Im Juni 1945 schrieb er an seinen Bruder Adolf, einen Maler, er habe in den zwölf Nazi-Jahren „nichts Schrecklicheres gesehen als diesen Elendsmarsch der todkranken Häftlinge“.

Auf Dachau hatte Hartmann schon sein erstes großes Werk nach 1933 bezogen, die Symphonische Dichtung für Orchester „Miserae“, deren Widmung lautet: „Meinen Freunden, die hundertfach sterben mussten, die für die Ewigkeit schlafen – wir vergessen euch nicht. (Dachau 1933 bis 1934)“. „Miserae“ wurde 1935 auf dem Musikfest der IGNM in Prag gegen deutsche Proteste uraufgeführt.

Mit der 2. Klaviersonate schloss sich für den 1945 gerade 40-jährigen Komponisten ein Kreis, der von der Niederlage der fortschrittlichen Kräfte, ihrem Elend bis zu ihrer Befreiung reicht. Die Sonate liegt in zwei verschiedenen Manuskriptfassungen vor. In der 1. Version ist die Satzfolge unter dem Gesichtspunkt des Tempokontrasts ausbalanciert. Das Modell dafür war Chopins b-Moll-Sonate op. 35.

Die Vortragsbezeichnung „Bewegt“ des I. Satzes bezieht sich eher auf die innere Bewegung, die hier nachklingt, als auf das recht gemäßigte Tempo; die Zwischenüberschrift „appassionato“ (leidenschaftlich) verstärkt diesen Charakter. Für die kleingliedrig-wiederholungsreiche Melodik, die – mit Mollcharakteristik – einen Grundton umkreist, hatte Hartmann Vorbilder schon vor 1933 in jüdischer Volks- und Ritualmusik gefunden. Über Bartók und Kodály vermittelte Einflüsse kommen hinzu. Die Elemente jüdischer Musik werden von Hartmann verallgemeinert und eingebettet in südosteuropäisch-ungarische beziehungsweise noch genereller östlich-orientalische Materialhorizonte. Er verdichtet darin all das, was dem NS als „Osten“ verächtlich bis verhasst war.

Das Kernmotiv des I. Satzes ist die Fagottmelodie vom Beginn von Strawinskis „Sacre du Printemps“ (Frühlingsopfer), in dem Strawinski seinerseits ein litauisches Hochzeitslied zitiert – Hartmann wiederum zitiert diese „Sacre“-Melodie in mehreren Werken. Sie ist dem von ihm ebenfalls mehrfach zitierten jüdischen Volkslied „Elias der Prophet“ sehr ähnlich, das er im „Simplicissimus“ melodiegetreu als wortlose Chor-Vokalise zitiert hatte. Es war mit seinem messianischen Gehalt in der Situation der Nazi-Herrschaft zusätzlich bedeutsam. Eine Ergänzung bietet das mehrfach eingebaute Zitat des bekannten „Le-be-wohl“ in Beethovens Klaviersonate op. 81a, dort mindestens an der Oberfläche eine private Botschaft, hier ein Abschied von den vielen Toten.

Dem klagenden I. Satz kontrastiert schroff als II. Satz ein „Scherzo“ in sehr raschem Tempo mit Perpetuum-mobile-Charakter. Fast zäsurlos läuft die Dreiviertelbewegung durch, jede Zählzeit ein Ton. Auch dieser Satz ist eine Paraphrase, nämlich die der „Internationale“. Als verschwiegene Textierung verwendet Hartmann nur die beiden ersten Zeilen des Refrains: „Völker, hört die Signale,/Auf zum letzten Gefecht.“ Diese Worte und die Melodie macht er zur Substanz des Satzes, kombiniert mit dem Quartsprung des Anfangs der „Internationale“, das „Wacht auf“ als Konzentrat ihrer I. Strophe.
Der Trauermarsch paraphrasiert das aus Russland stammende Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ und verschränkt dadurch die Erinnerung an das Schreckliche mit hoffnungsvoller Erwartung. Hartmann verwendet es jedoch, dem Anlass und der Thematik entsprechend, in Moll statt des originalen Dur.

Während im II. Satz der Jubel noch verhalten ist und im III. die Trauer überwiegt, erklingt, nach dem zurück- wie vorwärtsblickenden Trauermarsch, im IV. Satz ein Hymnus auf die Befreiung: wie im Scherzo in unaufhörlicher, nun aber tänzerisch-heiter, gelöster Bewegung als unaufhaltsamer Siegeszug. Liedvorlage für das „Allegro risoluto“ (Rasch/Heiter entschlossen) ist das während der russischen Bürger- und Interventionskriege im Fernen Osten entstandene „Partisanen vom Amur“. Insgesamt bewahrt das Werk in verallgemeinerter Gestalt Stimmungen und Gedanken jener einmaligen Situation Ende April und Anfang Mai 1945 mit ihrem Ende von Faschismus und Krieg und dem Beginn eines Friedens, den Hartmann damals im Zeichen des Sozialismus sah. Und es bewahrt damit als Dokument, das keiner nachträglichen Bearbeitung unterlag, spezifische Haltungen und Positionen zur Realität. Das Werk erscheint gerade heute aktuell und ist ein bedeutsames Modell einer gesellschaftlich fortschrittlichen Musiksprache.

So radikal politisch exponiert wie in dieser Klaviersonate hat sich Hartmann später nicht mehr geäußert. Die Hoffnung auf eine grundlegende Umwälzung nach der Befreiung haben Kalter Krieg und Restauration zunichte gemacht. Die Situation forderte ihren Tribut von Hartmann, nicht zuletzt den einer ideologischen Anpassung an das Dogma der unpolitischen, „absoluten“ Musik. Kompositorisch hat er sich dem nie völlig unterworfen.

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"„Unendlich war das Leid“", UZ vom 28. April 2023



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