Anfang Juni kritisierte der Menschenrechtskommissar des Europarates Michael O’Flaherty in einem offen abrufbaren Brief an den deutschen Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) das Vorgehen deutscher Behörden gegen Gaza-Demonstranten. Er monierte ebenso die damit verbundene Einschränkung der Meinungsfreiheit an „Universitäten, Kunst- und Kultureinrichtungen und Schulen“. „Vorfälle von exzessiver Gewalt“ gegen propalästinensische Demonstranten müssten „effektiv untersucht, die Verantwortlichen in geeigneter Weise sanktioniert und die Opfer über mögliche Rechtsmittel informiert“ werden. O‘Flaherty verwies dabei auf Berichte etwa von der Demonstration zum Nakba-Gedenktag am 15. Mai in Berlin.
Des Weiteren erinnerte der Menschenrechtskommissar den deutschen Innenminister an die „Richtlinien zur Versammlungsfreiheit“ der Venedig-Kommission des Europarates in Zusammenarbeit mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Deutschland ist Mitglied in beiden internationalen Organisationen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in puncto Meinungsfreiheit mache klar, dass diese nicht nur für erwünschte Meinungen gelte. Ohne diesbezügliche „Pluralität, Toleranz und Offenheit“ gebe es keine „demokratische Gesellschaft“, zitiert O’Flaherty den Gerichtshof.
Die IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus werde von einigen deutschen Behörden in einer Art und Weise genutzt, die Kritik an Israel als Antisemitismus interpretiere. Die deutschen Behörden seien gehalten, die Verpflichtungen zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit einzuhalten, die sie im Rahmen des Europarates eingegangen seien.
Die Stellungnahmen des Menschenrechtskommissariats lagen in der Vergangenheit immer wieder quer zum Mainstream der europäischen Eliten. Erinnert sei an die Stellungnahme von Nils Muižnieks zu den Folgen der Austeritätspolitik in Griechenland oder diejenige von Dunja Mijatović zur brutalen Repression gegen die französische Gelbwestenbewegung. Erinnert sei auch an ihre Aufforderung an die britische Innenministerin, Julian Assange nicht in die USA auszuliefern. Der vormalige Direktor der EU-Grundwerte-Agentur Michael O‘Flaherty galt bei seiner Wahl nicht als sonderlich kritisch gegenüber dem EU-weiten Mainstream. Umso erfreulicher ist die nun erfolgte deutliche Kritik an den Einschränkungen der Meinungsfreiheit und an den Repressionen in Deutschland.
In den deutschen Medien wurde vor allem die Kritik an der „exzessiven Gewalt“ gegen Gaza-Proteste rezipiert. Die weitergehenden Ausführungen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit und zum Missbrauch von Antisemitismusdefinitionen blieben meist unbeachtet. Dabei kann das Schreiben durchaus als Kritik an der Antisemitismus-Resolution des Bundestages vom 29. Januar dieses Jahres gelesen werden, die einzig vom BSW abgelehnt wurde. Dort forderte der Bundestag die Bundesregierung auf, massiv in die Art und Weise einzugreifen, wie an Schulen und Hochschulen über Antisemitismus unterrichtet wird – mit der Folge der nun vom Menschenrechtskommissar diagnostizierten Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Der Brief ist eine Ohrfeige für Innenminister Dobrindt und die Merz-Regierung. Er kommt zur rechten Zeit, scheinen doch die Proteste gegen den von der Bundesregierung durch entsprechende Waffenlieferungen unterstützten Genozid im Gaza endlich auch in Deutschland an Breite zu gewinnen.