Der Jahresbericht zum „Stand der Deutschen Einheit“

„Unerträgliche Lobhudelei“

Von Nina Hager

Jedes Jahr seit 1997 gibt der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer seinen Bericht zum „Stand der Deutschen Einheit“. Der diesjährige – seit 2018 ist der in Thüringen geborene Christian Hirte (CDU) verantwortlich –, der am 25. September vorgestellt wurde, hat für die Bundesregierung eine besondere Bedeutung. Schließlich feiert man in diesem Jahr 30 Jahre „Friedliche Revolution“. Laut Hirte stellt der aktuelle Bericht „die Fortschritte beim Zusammenwachsen von Ost und West dar“. Man sei weit „gekommen, aber noch nicht am Ziel“.

Im Teil A des vorliegenden Berichtes wird Bilanz gezogen. Anfangs wird behauptet, dass die „Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland“ bis heute weit vorangekommen sei. Es sei aber noch viel zu tun. Alles also eigentlich wunderbar? Die verheerenden Auswirkungen der Arbeit der Treuhand, die große Teile der DDR-Industrie zerstörte und damit Millionen Arbeitsplätze zunichte machte – oft, weil unliebsame Konkurrenz ausgeschaltet werden sollte und deren Maschinen. Liegenschaften oder Handelskontakte man gern übernahm –, werden nicht erwähnt, nur, dass man sie wissenschaftlich „aufarbeiten“ will. Die Auswirkungen sind jedoch bis heute sicht- beziehungsweise spürbar: In Ostdeutschland überwiegen mittelständische Unternehmen. „Großbetriebe“ sind meist Zweigstellen alt-bundesdeutscher Konzerne. Und die damals von Arbeitslosigkeit Betroffenen? Wie viele von ihnen haben „gebrochene“ Erwerbsbiografien? Wie viele sind in die alten Bundesländer gezogen, um überhaupt Arbeit zu finden? Zu Letzterem gibt es Zahlen, aber auf die Ursachen wird nicht eingegangen.

In Teil B wird der Bericht „konkretisiert“ und werden – sehr allgemein – Maßnahmen für Wirtschaft, Städtebau und so weiter vorgeschlagen. Viele Abbildungen und Tabellen folgen. Ein ganzer Abschnitt widmet sich – welch Überraschung – der „Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte“. Da geht es um „Stasi“, „Aufklärung über Diktatur und Widerstand“, DDR-Heimerziehung und so weiter, um Institutionen, „Gedenkstätten“ und das unsägliche „Einheitsdenkmal“ in Berlin. Mit diesem Herangehen, mit Freiwilligendiensten, der Förderung des „Ehrenamtes“ und bürgerschaftlichen Engagements, mit dem Kampf gegen „(Rechts-)Extremismus“ und Rassismus sowie mit „Demokratieförderung“ soll angeblich „die innere Einheit“ und der gesellschaftliche „Zusammenhalt“ gefördert werden.

Am Freitag der vorigen Woche ging es dann auch in der Bundestagsdebatte zum Thema ganz im Sinne des Berichtes weiter. Hirte erklärte eingangs unter anderem: „Wir haben inzwischen viel getan, dass der Unterschied zwischen Ost und West geringer geworden ist. Auch und gerade aktuell haben wir, sowohl absolut als auch relativ zum Westen, steigende Löhne, Gehälter und Renten. Im Osten haben wir dank der wirtschaftlichen Entwicklung und der Höhergewichtung der Renten heute die niedrigste Altersarmut im Land.“ Von verschiedenen Rednerinnen und Rednern folgten kritische Anmerkungen. Dietmar Bartsch, der Vorsitzende der Fraktion der Linkspartei, nannte Hirtes Beitrag eine „unerträgliche Lobhudelei“. Im Bericht stehe zum Beispiel, dass die ostdeutsche Wirtschaftsleistung heute bei 75 Prozent liege. Das höre sich erst einmal gut an. 1995 lag die Quote aber bereits bei 65 Prozent – in einem Vierteljahrhundert habe man also ganze 10 Prozent aufgeholt. Und was die Ostlöhne betrifft, die heute 85 Prozent der westdeutschen erreichen: Im Jahr 2000 lag deren Niveau bei 80 Prozent. Jeder dritte ostdeutsche Arbeitnehmer arbeite zu einem Niedriglohn.

Und das Armutsrisiko im Osten? Laut Bericht liegt es derzeit bei 18 Prozent (1995: 15 Prozent). Vor allem Kinderarmut und Altersarmut seien gestiegen – im ganzen Land. Altersarmut werde aber in einigen Jahren vor allem ostdeutsch und weiblich sein. „Die blühenden Landschaften“, so Bartsch, „entwickelten sich im Osten nicht, und im Westen gibt es sie auch nicht mehr.“

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"„Unerträgliche Lobhudelei“", UZ vom 4. Oktober 2019



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