Zur Eskalation im Nahen Osten. Ein Gespräch mit George Rashmawi

Warum weint niemand um Palästinas Kinder?

Die Eskalation im Nahen Osten ist in der vierten Woche. Deutschland weigert sich weiterhin, auf einen Waffenstillstand zu drängen, die überwältigende Mehrheit der Vereinten Nationen sieht das anders. Gaza ist weiterhin von der Versorgung abgeschnitten und wird bombardiert, erste israelische Bodentruppen rücken vor. UZ sprach mit George Rashmawi, dem Sprecher der Palästinensischen Gemeinde Deutschland, über die Situation in Gaza, die Hintergründe der Eskalation, westliche Doppelmoral und über die Chance auf Frieden in Nahost.

UZ: George, wir führen dieses Gespräch am 27. Oktober. Wie ist heute die Lage in Gaza nach fast drei Wochen Krieg?

George Rashmawi: Die Situation in Gaza ist zurzeit katastrophal. Der Zugang zu Nahrung, Treibstoff, Medikamenten und vor allem Wasser wurde abgeschnitten. Die Zahl der getöteten Palästinenser steigt fast stündlich. Besonders traurig macht mich, dass Kinder, Babys einfach bombardiert und getötet werden. Zurzeit sind die Angaben wie folgt: Heute, am 27. Oktober, sind 7.028 Palästinenser in Gaza getötet worden, 2.913 von ihnen sind Babys und Kinder, 1.709 sind Frauen. Circa 60 bis 65 Prozent der Getöteten sind Kinder und Frauen, sie sind es, die besonders unter diesem schrecklichen mörderischen und blutigen Krieg leiden.

Es gibt viele Orte in Gaza, die von den israelischen Flugzeugen einfach bombardiert werden, und zwar flächendeckend. Daher weiß man bisher noch nicht, wie viele Menschen noch unter den Trümmern liegen. Man rechnet mit 1.200, die meisten von ihnen Babys und Kinder. Die Situation ist mehr als katastrophal. Ich finde keine Worte, um es zu beschreiben. Aber es macht uns zornig und traurig und wir wissen nicht, wie es weitergeht.

UZ: Weil du gerade die Zahlen nochmal angesprochen hast: Ich fand ja eine besondere Unverschämtheit, dass sich der US-Präsident Biden jetzt hinstellt und sagt: Man weiß ja gar nicht, ob die Zahlen stimmen.

George Rashmawi: Das Gesundheitsministerium hat die Zahlen mit Namen, Geburtsdatum und Adressen veröffentlicht. Da sind Familien, die komplett ausgelöscht worden sind. Das heißt, Opa, Oma, Vater, Mutter, Kinder. Komplette Familien. Und, wenn du dich erinnerst, am zweiten Tag dieses Angriffs auf die israelische Armee am 7. Oktober hat die israelische Armeeführung gesagt, die Bewohner Nord-Gazas sollen nach Süden fliehen. Dann haben sie die Leute, die auf der Flucht waren, auf dem Weg bombardiert. Das heißt, dass man das Leben dieser Menschen nicht schonen wollte, sondern dass man so viele Menschen töten möchte, wie man kann. Das nennt man Rache, aber das ist keine Rache im Sinne von Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern das ist die kollektive Bestrafung eines Volkes und eine gezielte Ausrottung, eine ethnische Säuberung.

UZ: Nochmal zu den Hintergründen. Die Al-Aksa-Flut wurde ja nicht allein von der Hamas geplant und durchgeführt. Weißt du, wer noch beteiligt war?

George Rashmawi: Beteiligt sind fast alle palästinensischen Gruppen, mehr als zwölf bewaffnete palästinensische Gruppen haben teilgenommen, auch die linken Organisationen. Das war nicht Hamas alleine. Der Versuch, diesen Krieg als einen zwischen Hamas und Israel darzustellen, soll das Bild einer Art religiösen Kriegs heraufbeschwören. Das wird aber nicht funktionieren, unser Volk passt genau auf. Lass mich an dieser Stelle klarstellen, wir sind gegen die Tötung von Zivilisten auf beiden Seiten. Wir sind für die Befreiung unseres Landes. Das Ziel des Angriffs sind Soldaten und die Siedler, die sich unser Land einverleiben und Siedlungen darauf bauen.

UZ: Ist denn die Al-Aksa-Flut in Gaza zum Teil auch als Befreiungsversuch wahrgenommen worden?

George Rashmawi: Ich glaube, diejenigen, die das geplant und durchgeführt haben, wissen genau, was sie wollen. Und sie haben mit so einer Reaktion gerechnet. Vielleicht nicht so massiv, wie das zurzeit ist. Aber eins steht fest: Man kann den 7. Oktober nicht getrennt von der allgemeinen Entwicklung in den besetzten Gebieten betrachten. Allein auf der Westbank gab es zwischen Anfang Januar und dem 7. Oktober über 132 getötete Jugendliche, seit dem 7. Oktober wurden 110 Jugendliche erschossen. Die Al-Aksa-Moschee wurde mehrmals von Siedlern angegriffen. Und du weißt, wie sensibel das Moschee-Thema für die muslimischen Menschen in Palästina ist. Und keiner spricht hier darüber.

UZ: Es ist ja nicht nur die Al-Aksa-Moschee angegriffen worden ist, sondern es gab auf dem Tempelberg ja auch massive Angriffe auf Christen.

George Rashmawi: Die Christen werden bespuckt und die Kirchen werden attackiert. Und das war zu erwarten. Weil dieses faschistische Trio – Netanjahu, Ben-Gvir und Smotrich – ganz klar sagt, dass sie die Westbank annektieren wollen, und Netanjahu hat in der UN-Generalversammlung eine Landkarte gezeigt, in der es keine Westbank, kein Gaza, überhaupt kein Palästina mehr gibt. Das heißt, sie sehen die Verwirklichung ihres Traums als zionistische Bewegung zum Greifen nah. Deswegen sprechen viele Palästinenser von dem Versuch, eine Endlösung für die Palästinafrage herbeizuführen. Im Sinne: Entweder verlasst ihr das Land, sagt ja zu Netanjahu und seiner Clique, oder ihr bleibt und seid Bürger dritter Klasse, noch nicht mal zweiter Klasse. Ihr könnt arbeiten, essen und schlafen. Keine Rechte, im Sinne eines Apartheidstaates.

Auf der Westbank herrschen zwei Systeme. Einmal für die Israelis, das sind die Siedler, und einmal für die Palästinenser. Wir werden mit militärischen Gesetzen mehr oder weniger verurteilt und mit militärischen Gesetzen regiert.

440802 - Warum weint niemand um Palästinas Kinder? - George Rashmawi, Nahost-Konflikt, Palästina - Hintergrund
George Rashmawi

Die Geschichte hat ihre Wurzeln seit der Vertreibung von 750.000 Palästinensern 1948. Diese Menschen leben bis jetzt noch außerhalb Palästinas. Dazu kommt die Besetzung von Westbank, Gaza und Ost-Jerusalem 1967, als noch mal 35.000 Palästinenser vertrieben worden sind. Die Menschen erleben tagtäglich Checkpoints, an denen sie untersucht werden. Sie sind mit einer Mauer eingekesselt auf der Westbank, wo sie nicht zu ihrer Arbeit gehen können oder ins Krankenhaus oder zur Schule. Das ist kein Leben, das ist die Hölle.

Gaza ist seit 17 Jahren belagert und kein Mensch der sogenannten westlichen Welt macht den Mund auf und sagt: Leute, das sind 2,3 Millionen Menschen, die in einem Gebiet leben, das nur 47 Kilometer lang und 12 bis 19 Kilometer breit ist. Es ist das dichtestbesiedelte Land der Erde. Und dieses Land wird einfach hermetisch abgeriegelt. Nichts kann rein, nichts kann raus ohne israelische Erlaubnis.

Ich möchte sehen, wie sich jemand verhält, der in einem Käfig lebt. Ja, manche flippen aus. Diese Aktion zeigt auch, dass die Menschen so nicht mehr leben können. Sie haben keine Perspektive und diese Hoffnungslosigkeit bringt die Menschen zu Sachen, an die man als normaler Mensch nicht denkt. Solange das Leben dieser Menschen, die Zukunft dieser Menschen nicht berücksichtigt wird, solange man merkt, es ist eine Doppelmoral, die überall hier herrscht, besonders in Europa und besonders in Deutschland, wird man sich vernachlässigt fühlen und die Frage stellen: Wozu lebe ich eigentlich? Dann greift man zu militärischen Aktionen und nimmt wenigstens noch ein paar Soldaten mit. So denken Jugendliche in Gaza.

UZ: Weil du gerade die Doppelmoral des Westens angesprochen hast. Was sagst du zu der Weigerung der deutschen Außenministerin, sich für einen humanitären Waffenstillstand einzusetzen? Das, finde ich, ist ein gutes Beispiel für Doppelmoral von einer Frau, die sehr ausschweifend über ukrainische Kinder weinen kann.

George Rashmawi: Wie kann sich Deutschland so was erlauben? Wir leiden bis jetzt unter der Entwicklung, die 1930er/40er Jahre, als hier ein faschistisches Regime herrschte, das sechs Millionen Juden vergast hat. Viele Juden aus Europa sind zu uns emigriert, nach Palästina. Sie hatten einen Traum, in Palästina ihre Sicherheit zu finden, und die zionistische Bewegung wollte einen Staat auf Kosten des palästinensischen Volkes errichten. Unter dem Motto: Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Aber das Land war bevölkert. Und das Land war sehr fruchtbar. Nicht wie Frau von der Leyen meint, sie hätten – sie meint die Zionisten – aus der Wüste ein fruchtbares Land gemacht. Das entspricht nicht der Wahrheit. Palästina hat in den 1930er Jahren sogar Orangen nach Deutschland exportiert. Die erste Vertretung für Mercedes in der arabischen Welt war in Palästina. Wir hatten Schulen …

Der Versuch, die palästinensische Version der Entwicklung dieses Konflikts einfach außer Acht zu lassen und die Adaption der zionistischen Version und besonders der rechten israelischen Version ist verdammt falsch.

Das ist ein Rassismus, der seinesgleichen sucht. Warum weint ihr, wenn die Kinder in der Ukraine getötet werden, aber die Kinder in Palästina nicht? Wenn israelische Kinder getötet werden, muss man das betrauern. Aber das gilt auch, wenn die Kinder Palästinas bombardiert werden und getötet werden. Das ist – wie soll ich das formulieren – das ist nicht nur unmenschlich und das ist nicht nur Doppelmoral.

UZ: Bleiben wir noch ein bisschen bei deutscher Innenpolitik. Die Repressionen haben ja stark zugenommen. In Berlin darf man nicht mehr mit einem Palästinensertuch in die Schule gehen. Die Forderung „Freiheit für Palästina“ wird als antisemitisch verunglimpft. Ihr organisiert zurzeit in Deutschland ganz viele Palästina-Soli-Demos. Seid ihr da auch Repressionen ausgesetzt? Was sind da deine Erfahrungen?

George Rashmawi: Keiner kann mir erzählen, dass so schnell Erlasse und Befugnisse gegen die Arbeit der palästinensischen Gemeinde in Deutschland verabschiedet werden. Das war schon vor dem 7. Oktober geplant. Nicht nur die Berichterstattung in den Medien ist einseitig, es werden auch in Schulen Broschüren verteilt, Fragen gestellt, es werden an Unis Informationen geschickt, wie man sich verhalten soll. Es werden Demos untersagt unter dem Motto: Diese Demos können Hass und können Antisemitismus gegen die Juden hervorrufen.

Die Palästinenser haben keinen Hass gegen die Juden und wir sind keine Antisemiten. Die Entwicklung in Palästina selber und die Geschichte Palästinas zeigt, dass Juden und Palästinenser, bevor die zionistische Bewegung, diese kolonialistische und Siedlerbewegung, im 19. Jahrhundert entstand, friedlich zusammengelebt haben. Das Judentum ist eine Religion, keine politische Partei, keine politische Organisation. Dieser Staat Israel sollte ein Vorposten der sogenannten Zivilisation sein, eine Mauer gegen die nichtzivilisierten Menschen zum Schutz Europas. Das war am Anfang der Gedanke.

Heute hat Israel die Aufgabe, die Ölvorräte und Gasvorräte in den Golfstaaten zu kontrollieren. Es ist die Aufgabe, keine demokratische Entwicklung in den umliegenden Ländern zuzulassen. Als Beispiel kann hier Ägypten gelten, wo mit dem Krieg 1967 eine Entwicklung in Richtung Sozialismus unterbunden wurde. Israel hat eine Rolle in der Strategie der USA. Daher liegen vor Jaffa und Haifa und Tel Aviv US-amerikanische und britische Flugzeugträger. USA, Britannien, Frankreich und Deutschland wollen ihre wirtschaftlichen Interessen in der Region wahren. Sie brauchen einen Gegenpol gegen die Entwicklung der multipolaren Weltordnung, die von Russland und China vorangetrieben wird. Diesen Kontext muss man genauso beachten wie den Kontext Palästina-Israel. Daher ist dieser Konflikt zurzeit kaum lösbar.

Die westlichen Länder müssen versuchen, mit aller Kraft Druck auf Israel auszuüben, damit sie diese barbarische blutige Auseinandersetzung beenden. Sie können das beenden. Es muss versucht werden, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen, wo eine politische Lösung auf der Grundlage der UN-Resolution erreicht wird. Ich habe allerdings nicht viel Hoffnung, dass es so gemacht wird. Aber es ist die einzige Möglichkeit für eine politische Lösung in dieser Region. Sonst wird dieser Krieg der blutigste, den der Nahe Osten, Palästinenser und Israel je erlebt haben.


Die Menschen in Gaza brauchen unsere Hilfe!
Die humanitäre Lage ist katastrophal, es fehlt an Nahrungsmitteln, Medikamenten, Wasser. Die zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe von UZ in den Gazastreifen gelassenen 140 Lkw mit Hilfsgütern sind weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein – vor der Abriegelung Gazas erreichten täglich 140 Lkw mit Hilfsgütern die Menschen, um ein Mindestmaß an Versorgung zu sichern. Bitte spendet auf das Konto des DKP-Parteivorstands:
GLS-Bank | BIC: GENODEM1GLS IBAN: DE63 4306 0967 4002 4875 01 | Stichwort „Gaza“.
Auch Medikamente werden dringend benötigt. Antibiotika, Blutdruckmedikamente und so weiter mit einer Haltbarkeit von mindestens einem Jahr können geschickt werden an:
DPMG e.V.
Liegnitzstraße 28
53721 Siegburg


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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Warum weint niemand um Palästinas Kinder?", UZ vom 3. November 2023



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