Das militärische Eingreifen der USA an der Seite Israels und Drohungen gegen Libanon, Syrien, Irak und Iran werden den Nahen Osten nachhaltig verändern

Palästina ist nicht allein

Karin Leukefeld

Der Krieg in Israel-Palästina ist die Folge falscher Politik. Für langjährige Beobachter der Entwicklung war der Angriff der Qassam-Brigaden auf Israel keine Überraschung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich aus dem palästinensischen Volk der Unterdrückten eine Armee erheben würde, um sich zu wehren. Und obwohl die israelische Armee das Westjordanland abgeriegelt hat und den Gaza­streifen zerbombt, obwohl die Menschen in Gaza getötet und vertrieben werden, obwohl sich die mächtigen Verbündeten Israels in der westlichen Hemisphäre politisch, militärisch und medial an der Seite Israels aufstellen, hält der Angriff der palästinensischen Kämpfer an.

Sie kämpfen nicht gegen Juden

Sie kämpfen nicht gegen Juden, sondern gegen Israel, das sich das Land von Palästina angeeignet und – mit westlicher Unterstützung – zu einer waffenstarrenden Militärbasis ausgebaut hat. Sie kämpfen gegen Usurpatoren, Eindringlinge, Besatzer, die ihnen das Land, ihre Würde, ihre Zukunft seit 75 Jahren rauben. Der palästinensische Nationaldichter Mahmoud Darwish hat sein Leben lang über die Erfahrungen der Kolonisierten in Palästina mit dem zionistischen Siedlerkolonialismus Israels geschrieben:

„Ihr habt die Obstgärten meiner Vorfahren gestohlen/Und das Land, das ich bebaut habe/Und nichts habt Ihr uns gelassen/Außer diesen Steinen/…/Wenn ich hungrig werde/Wird das Fleisch des Besatzers meine Nahrung sein.“

Darwish war 7 Jahre alt, als sein Geburtsort Al Birwa, etwa 10 Kilometer von der Hafenstadt Acra entfernt, im Juni 1948 von zionistischen Milizen überfallen wurde. Die Bewohner wehrten sich und trieben die Angreifer zurück. Doch am 24. Juni kehrten die Milizen zurück und nahmen das Dorf ein. Die Bewohner wurden vertrieben. Anfang 1949 wurde aus Al Birwa ein Kibbutz.

Es ist wichtig, sich an die gewaltsame Gründung des Staates Israels 1947/48 zu erinnern. Hunderttausende Palästinenser verloren ihre Heimat und wurden zur Flucht gezwungen. Bis heute leben sie und ihre Nachfahren in den arabischen Nachbarländern zumeist unter unwürdigen Bedingungen in Lagern. Vergleicht man den Teilungsplan der Vereinten Nationen – der 1947 bereits ein unrechtmäßiger Eingriff in die Region war – mit dem, was heute für die Palästinenser geblieben ist, wird das Ziel der Zionisten deutlich. Benjamin Netanjahu zeigte bei der letzten UN-Vollversammlung in New York eine Karte von Israel, auf der Palästina nicht vorkam. Gleichzeitig machte er sich lustig über die UN-Resolutionen für die Rechte der Palästinenser, die Israel nie einhielt.

Gaza soll vernichtet werden

Nun führt die israelische Armee aus, was Netanjahu angekündigt hat. Gaza und seine Bewohner sollen mit massiven Luftangriffen von der Landkarte getilgt werden. Allen schönen Worten westlicher Politiker zum Trotz, dass Zivilisten im Krieg geschont werden müssten, bombardiert Israel selbst die Gebiete und Fluchtwege, über die die Bewohner von Gaza versuchen, sich in Sicherheit zu bringen.

Chan Younis im Süden des Gazastreifens wird ebenso bombardiert wie Gaza-Stadt. Selbst Gebäude neben neu errichteten Flüchtlingsunterkünften sind Ziel von israelischen Luftangriffen. Es fehlt an Wasser, Strom, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Die Menschen leiden an Atemproblemen, weil die Luft voller Staub und Schadstoffe ist.

Ein Augenzeuge, selber ein Mitarbeiter im Gesundheitswesen, berichtet, wie er mit seiner Frau in ein Krankenhaus geht, um die Schnittwunden behandeln zu lassen, die zerborstenes Glas verursacht hat. Sie hätten Furchtbares gesehen, beschreibt der Mann einem palästinensischen Journalisten: „Enthauptete Kinder, verstreut herumliegende Körperteile, eine Frau schrie in Todesangst. Das Krankenhaus war überfüllt, das medizinische Personal überfordert. Massaker passieren in jedem Stadtteil.“ Es sei eine Katastrophe, so der Mann: „Obwohl wir seit 17 Jahren unter Belagerung sind, ist das, was die internationale Gemeinschaft an Rhetorik über Menschen-, Kinder- und Frauenrechte verbreitet, hohl, wenn es um die Palästinenser geht. Gaza soll vernichtet werden und wir haben das Gefühl, dass sich niemand darum schert.“

Was der Mann beschreibt, wird vermutlich weit über Gaza hinaus für die Menschen der Region bald Wirklichkeit werden. Die Solidaritätsbekundungen westlicher Staaten und der USA mit Israel bedeuten nicht, dass man Israel beruhigen will. Vielmehr ist der Plan, das, was Israel vorhat – die Vernichtung der Palästinenser – selber zu übernehmen. Um es der Bevölkerung in den Heimatländern schmackhaft zu machen, werden Bilder und Berichte aus Gaza für die breite Öffentlichkeit ebenso unterdrückt wie seit vielen Jahren die Szenen der Unterdrückung von Palästinensern in ihrer Heimat: Schläge, Tritte, Hauszerstörungen, Festnahmen, Abriegelungen gehören zum Alltag von Palästinensern in den von Israel kontrollierten Gebieten.

Der Versuch, aus ihrem Gefängnis und der Unterdrückung auszubrechen, wie es jetzt die Qassam-Brigaden gewagt haben, soll mit einem Massaker an der Zivilbevölkerung enden. Aufgabe für „werte-orientierte“ westliche Politiker ist, die Vernichtung und Vertreibung der Palästinenser mit „humanitären Korridoren“, Ausreisemöglichkeiten für Palästinenser mit ausländischen Pässen, Druck auf die Hamas und Kriminalisierung ihrer Anhänger und aller, die Palästina unterstützen, zu begleiten.

Massenprotest in arabischen Staaten

Es ist unwahrscheinlich, dass die arabische Bevölkerung, die arabischen Staaten oder die bewaffneten Gruppen in der Region das zulassen werden. Schon jetzt haben Massendemonstrationen für die Rechte der Palästinenser in der arabischen und muslimischen Welt die jeweiligen Regierungen dazu gebracht, dem Druck der USA nicht nachzugeben. Sie haben die Hamas nicht verurteilt, sondern auf die Ursachen des Angriffs hingewiesen, auf die anhaltende Unterdrückung der Palästinenser durch Israel.

Der saudische Kronprinz Salman Bin Sultan ließ den US-amerikanischen Außenminister Antony Blinken auf ein Gespräch warten und stimmte sich derweil mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi ab. Blinken, der von Saudi-Arabien eine Fortsetzung der „Normalisierung“ mit Israel und eine Verurteilung der Hamas forderte, wurde in Riad beides nicht zugesagt. Und Ägypten, das von USA und Partnern aufgefordert wird, den Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten zu öffnen, weigert sich, das zu tun. Nicht, weil man mit einer Million oder mehr Flüchtlingen überfordert sei, sondern weil Ägypten damit der Vertreibung der Palästinenser aus ihrem Land Tür und Tor öffnen und Israels Vernichtungsplan unterstützen würde.

420802 Gaza - Palästina ist nicht allein - Nahost-Konflikt, Palästina, Palästina-Solidarität - Hintergrund
Dem Erdboden gleich gemacht: Wohnhäuser im Gazastreifen. (Foto: Palestine Red Crescent Society)

Die USA haben die Führung übernommen

Die USA haben in Israel derweil das politische, militärische und diplomatische Handeln Israels selbst übernommen. Antony Blinken, der sich seit einer Woche in der Region aufhält, nimmt an Sitzungen des israelischen Notkabinetts teil, US-amerikanische militärische Spezialkräfte haben das Kommando in der israelischen Armee und im Geheimdienst übernommen. Die israelischen Führungskräfte sind ihrer Kompetenzen entbunden. Netanjahu wird voraussichtlich am Ende keine Rolle mehr in der israelischen Politik spielen, auch wenn ein Ende dieses Krieges aktuell nicht absehbar ist.

Zwei US-Flugzeugträger mit Begleitschiffen sind im östlichen Mittelmeer in Position gegangen, um vor allem Libanon und Syrien einzuschüchtern und von einem Eingreifen in den Krieg abzuhalten. Mindestens 2.000 US-Spezialkräfte und Marines sind nach Israel verlegt worden, um den Krieg gegen Gaza mit der israelischen Armee anzuführen. Ein großer Krieg ist wahrscheinlich, weil weder die USA noch andere US-Partner auf die Vorschläge aus Russland, China oder Iran eingehen, um die Situation zu entschärfen. Das betrifft Verhandlungen, eine Friedenskonferenz, einen Waffenstillstand und einen Gefangenenaustausch.

3-Punkte-Plan aus China für Palästina

Bevor sich der chinesische Sonderbeauftragte für den Nahen Osten, Zhai Jun, auf den Weg in die Region machte, traf er sich am 14. Oktober auf deren Wunsch mit den Vertretern der Arabischen Liga in Peking. Die Vertreter der 22 arabischen Staaten vertrauen offenbar mehr auf China, wenn es um eine Vermittlung im aktuellen Krieg geht. China sagte Unterstützung zu. Der chinesische Präsident Xi Jinping hatte im Sommer Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in Peking empfangen und den Palästinensern eine strategische Partnerschaft angeboten. Präsident Xi legte einen 3-Punkte-Plan vor, mit dem China auch bei der UNO die Gründung eines Staates Palästina in den Grenzen von 1967 mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem unterstützen werde.

Die Augen sind auf Iran gerichtet, der in der Region als militärischer und politischer Akteur nicht mehr geleugnet werden kann. Hossein Amir Abdollahian führte in den letzten Tagen intensive Gespräche in Bagdad, Damaskus und Beirut sowie mit dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Muhammad bin Zayid Al Nahyan. Er machte die USA für die Entwicklung in Gaza verantwortlich und erklärte, Washington müsse Israel stoppen. Sollte das nicht geschehen, werde Iran eine Antwort geben. Am Montagabend sprach Abdollahian von der Möglichkeit, schon „in den kommenden Stunden“ einen „vorbeugenden Angriff“ zu genehmigen. Die Gruppen, die vom Iran unterstützt würden, würden Israel daran hindern, in Gaza zu tun was es wolle.

In Syrien könnten die US-Truppen Ziel von Angriffen werden, auch die US-Militärbasen im Irak könnten vor Angriffen nicht sicher sein. Seit mehr als einer Woche gibt es zwischen der israelischen Armee und der libanesischen Hisbollah Schusswechsel entlang der Waffenstillstandslinie, die aber bisher begrenzt blieben. Libanon und auch die Hisbollah wollen vermeiden, in den Krieg hineingezogen zu werden. Das Land hat enorme wirtschaftliche und politische Probleme und beherbergt mehr als eine Million syrische Flüchtlinge. Die Bevölkerung wäre kaum in der Lage, einem israelischen Angriff zu widerstehen.

Koordinierter Widerstand in der Region

Gleichwohl sind die von Iran unterstützten Widerstandsbewegungen in der Region vorbereitet, in den Konflikt einzugreifen. Hisbollah (Libanon), Ansarallah (Jemen), Hasht al-Shaabi und Kataib Hisbollah (Irak), die Hamas oder der Palästinensische Islamische Schihad werden ihren militärischen Widerstand koordinieren, um Israel und dessen Ziehvater USA daran zu hindern, Palästina auszuradieren, erklärten Gesprächspartner im Libanon der Autorin.

Ob mit oder ohne Krieg deuten sich massive Machtverschiebungen in der Region an, die Israel – und seine Verbündeten im Westen – schwächen und die Kräfte der Region stärken werden.

Das blutige Geschehen, das sich mit einem militärischen Eingreifen der USA und deren Drohungen gegenüber anderen Staaten der Region – Libanon, Syrien, Irak, Iran – abzeichnet, wird die Region nachhaltig verändern. Die arabischen Staaten gehen zu den USA auf Distanz und wenden sich den führenden Staaten im Osten Asiens – Iran, Russland, China – zu. Israel wird geschwächt zurückbleiben, die USA werden sich geschlagen aus der Region zurückziehen müssen. Die EU wird in der Region keine Rolle mehr spielen. Stattdessen soll sie das von den USA bereitete Schlachtfeld in der Ukraine weiter befeuern.

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"Palästina ist nicht allein", UZ vom 20. Oktober 2023



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