Maryam Touzanis zweiter Film jetzt im Kino

Zwischen Mut und Zensur

Minutenlang streift, nein, streichelt die Kamera der Französin Virginie Surdej schon im ersten Bild die sanften Wellen einer meterlangen, glänzend blauen Seidenbahn, aus der als Endprodukt erst der titelgebende blaue Kaftan entstehen wird. „Das Blau des Kaftans“ ist ihre zweite Zusammenarbeit mit der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani, deren Debütfilm „Adam“ Surdej schon mit ihren ruhigen Bildern prägte: genau kadrierte Nah- und Halbnahaufnahmen, die den Ton eines Kammerspiels halten und auch ohne Dialoge die darüber liegende Handlungsebene erahnen lassen.

Auch thematisch sind beide Filme verwandt: „Adam“ erzählte vom elementaren Handwerk des Brotbackens und seinen traditionellen Rezepturen, Halim (Saleh Bakri) und seine Frau Mina (die großartige Lubna Azabal aus „Adam“) betreiben in der Altstadt von Salé ein Atelier für traditionell handgefertigte und üppig verzierte seidene Kaftane für zahlungskräftige Kunden. Um deren arroganten Ansprüchen zu genügen und zugleich die schwerkranke Mina zu entlasten, finden sie den jungen, lernbereiten Youssef (Ayoub Missioui) als Gehilfen. Doch Mina merkt bald, dass dessen unerwarteter Eifer nicht so sehr dem alten Handwerk gilt wie den homoerotischen Lüsten ihres Mannes, die sie bisher durch seine regelmäßigen Hamam-Besuche vor staatlicher Verfolgung bewahrt hatte. Sie wird zur gestrengen Chefin und treibt Youssef mit falschen Anschuldigungen für kurze Zeit aus dem Atelier …

In Marokko gilt wie in allen arabischen Ländern: Auf Homosexualität steht Gefängnis. Touzani, die das Drehbuch gemeinsam mit Ehemann und Produzent Nabil Ayouch schrieb, muss die Repression nicht explizit beschreiben oder gar durch dräuende Musik betonen – sie liegt in ihren Bildern stets in der Luft. Ihre Inszenierung kann sich ganz auf das komplizierte Dreierverhältnis ihrer Hauptfiguren konzentrieren. Vor allem Mina fordert das Drehbuch ein großes Maß an Stimmungsbrüchen ab. Großmütig lässt sie Halim seine kleinen Fluchten in den Hamam, doch in ihr Verhalten gegen Youssef mischt sich neben der Sorge um ihren Mann auch eine Andeutung von Eifersucht, und dann ist da auch noch der Brustkrebs, der wenig Hoffnung lässt. Ein Berg an Problemen auch für eine große Schauspielerin, doch Lubna Azabal meistert sie alle – und schafft dadurch ein passendes Gegengewicht zu der mit feineren Noten gezeichneten Beziehung der beiden Männer.

Auffallend weniger fein ist das Bild, dass Touzani und Ayouch von der sozialen Umgebung ihrer drei Hauptfiguren zeichnen, die doch der Boden ist, auf dem repressive Moralvorschriften und Gesetze gedeihen, speziell jene Schichten, die zu Halims Kundschaft gehören. Dass die Kundin, für die der ganz besondere Kaftan bestimmt ist, ihn offenbar nur als sündhaft teures Statussymbol, aber nicht als Leistung eines Künstlers wertschätzt, steht für die Arroganz der Neureichen und Primitiven. Die tieferen Ursachen des verklemmten Gesellschaftssystems bleiben außer Betracht. Politische Forderungen sind Touzanis Sache nicht – sie hätten vielleicht auch mit staatlicher Zensur rechnen müssen. Stattdessen begnügt sich der Film mit dem Rückzug in eine manchmal fast reaktionär anmutende Nostalgie (noch nicht ganz) vergangener Zeiten – die aber umso heftiger nach gesamtgesellschaftlicher Erneuerung ruft.


Das Blau des Kaftans
Regie: Maryam Touzani
Unter anderem mit: Lubna Azabal, Saleh Bakri und Avoub Missioui


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Über den Autor

Hans-Günther Dicks (Jahrgang 1941), Mathematiklehrer mit Berufsverbot, arbeitet seit 1968 als freier Film- und Medienkritiker für Zeitungen und Fachzeitschriften, für die UZ seit Jahrzehnten.

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"Zwischen Mut und Zensur", UZ vom 17. März 2023



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