DVD-Edition dokumentiert die Diskussionen um den § 218 anhand der Verfilmungen von Friedrich Wolfs Stück "Cyankali "

„Cyankali“ – Lektion und Mahnung

Von Cristina Fischer

cyankali lektion und mahnung - „Cyankali“ – Lektion und Mahnung - - Kultur

Cyankali. ARTE EDITION/absolut MEDIEN 2016, s/w und Farbe, 230 Min. auf 2 DVDs. 24,90 Euro

Homepage der Friedrich-Wolf-Gesellschaft und der Gedenkstätte Lehnitz: http://www.friedrichwolf.de/

Berlin um 1929. Die junge Stenotypistin Hete lebt mit ihrer verwitweten Mutter und zwei kleinen Geschwistern in einer „Stube mit Küche“. Als sie bemerkt, dass sie von ihrem Freund, dem Arbeiter und Gewerkschafter Paul, schwanger ist, möchte sie das Kind behalten. Doch die Wirtschaftskrise fordert ihre ersten Opfer – Paul wird nach einem Streik entlassen und auch Hete verliert ihre Arbeit. Als Paul in die Betriebskantine einbricht, um für die kleine Familie Lebensmittel zu beschaffen, wird nach ihm polizeilich gefahndet, er muss sich verstecken und wird später verhaftet. Hete, von ihrer Mutter wegen der „Schande“ eines unehelichen Kindes aus der Wohnung geworfen, beschließt, den Embryo abzutreiben und wendet sich an einen Arzt, der sie jedoch abweist (nachdem er einer reichen Dame ein Gefälligkeitsattest ausgestellt hat). Hetes Selbsthilfeversuch mit einer unsauberen Spritze scheitert und ruft eine Sepsis hervor. Daraufhin sucht sie eine Engelmacherin auf, die ihren kritischen Zustand bemerkt und sie wegschickt. Aus „Gutmütigkeit“ gibt sie ihr noch ein Fläschchen mit Zyankali mit. Hete kehrt zu ihrer Mutter zurück und lässt sich von ihr das Gift einflößen, das tatsächlich zum Abort führt. Die junge Frau stirbt allein in der Kammer, nachdem ein Polizeikommissar in der Wohnküche erschienen ist und den Abtreibungsfall untersucht hat. Da die Mutter ihre Mithilfe bei der Verabreichung des Gifts gestanden hat, ist sie prompt verhaftet worden. Hetes letzte Worte klagen an: „Zehntausend müssen sterben … Hilft uns denn niemand?“

Ein Reißer, ein Schocker, ein Faustschlag mitten ins Gesicht, der seine Wirkung nicht verfehlte.

Ein engagierter Autor

Der Stuttgarter Arzt Friedrich Wolf (1888–1953) hatte mit diesem Stück seinen größten Skandalerfolg, nachdem er bereits seit Anfang der 20er Jahre als Dramatiker auf sich aufmerksam gemacht hatte. 1928 war er in die KPD eingetreten und hatte seinen Essay „Kunst ist Waffe“ veröffentlicht. Er hatte lebhaftes Interesse auch an der Lage der Frauen und ließ in seinen Dramen und Erzählungen starke Frauen auftreten.

Er war nicht der erste Autor der „Weimarer Republik“, der sich des umstrittenen Paragraphen 218 angenommen hatte. Heute vergessen ist sein Kollege Dr. Carl Credé, der ab 1926 wegen Beihilfe zur Abtreibung eine zweijährige Gefängnisstrafe verbüßen musste und danach ein Stück „Gequälte Menschen“ vorlegte, das 1930 von Erwin Piscator in Berlin aufgeführt wurde. Credé stand der SPD nahe und wünschte keine „Politisierung“ des Themas.

Friedrich Wolf aber verknüpfte in seinem Stück die Anklage gegen den Paragraphen, der verzweifelte Mütter und hilfsbereite Ärzte kriminalisierte und bis zu zehntausend Frauen jährlich das Leben kostete, mit einer Anklage gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Behörden der Weimarer Republik. Es ging ihm darum, die soziale Situation so zu verändern, dass Frauen Kinder bekommen können, ohne deren baldigen Tod fürchten zu müssen oder selbst ins Elend zu geraten. Die „medizinische Indikation“ für eine Schwangerschaftsunterbrechung gab es in Deutschland seit 1927, Wolf plädierte zusätzlich für eine soziale Indikation und bezog diese in seine eigenen Gutachten ein.

„Cyankali“ wurde am 6. September 1929 im Berliner Lessingtheater von der „Gruppe Junger Schauspieler“ uraufgeführt und vor begeistertem Publikum über hundertmal in Berlin gespielt, bevor die Truppe auf große In- und Auslandstournee ging.

Die neu gegründete Atlantis-Film Produktion erwarb die Filmrechte; die Dreharbeiten begannen Ende Januar 1930. Nachdem der Streifen relativ schnell abgedreht war, musste er noch die Filmzensur passieren. Zuständig dafür waren die Filmprüfstelle in München (für Bayern, Württemberg, Baden, Hessen) und die Oberprüfstelle in Berlin (für alle anderen deutschen Länder). Im Mittelpunkt der Prüfung sollte dabei die „Gefährdung lebenswichtiger Interessen des Staates, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ stehen.

Die Zensurkarten sind im Filmarchiv erhalten geblieben und sehr aufschlussreich, vor allem für die Bewertung der Weimarer Demokratie.

Zunächst einmal erregte schon der Begriff „Cyankali“, also auch der Titel selbst, Anstoß und sollte entfernt werden. (Diese Forderung wurde später erlassen.) Ferner missfielen die Szenen beim Gynäkologen und bei Frau Heye sowie der Selbstmord der kinderreichen Nachbarin. Sie wurden herausgeschnitten. Im fertigen Film wird auf Beihilfen für notleidende Mütter verwiesen, und der Amtsarzt verhindert die Verhaftung der Mutter am Bett der sterbenden Tochter.

Später wurden weitere Schnitte durchgesetzt und der Film auf Antrag Bayerns sogar verboten, einige Monate später erneut zugelassen.

„Dass der Film mehrmals durch die Zensurprozedur musste, war offenbar vor allem der Initiative der Polizei- Direktion München sowie den Landesregierungen von Bayern, Württemberg, Baden und schließlich auch Thüringen geschuldet, die mehrmals gegen die jeweiligen Zulassungen durch die Oberprüfstelle Berlin Einspruch erhoben“, berichtet Renate Ullrich in ihrem Aufsatz zur Geschichte des Films.

Die Premiere fand am 23. Mai 1930 im Berliner Kino Babylon am Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz) statt. Friedrich Wolf hielt einen flammenden Einführungsvortrag, der großen Anklang fand. Wie aus dem erhaltenen Konzept hervorgeht, wollte er mit der 11. Feuerbach-These von Karl Marx enden: „Die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Der bekannte Berliner Sexualforscher Dr. Magnus Hirschfeld sprach ebenfalls.

Wolfs Stück war der Auftakt zu einem erbitterten öffentlichen Kampf um die Abtreibungsfrage in Deutschland. Die KPD reichte einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung des § 218 im Deutschen Reichstag ein, (wo er selbstverständlich durchfiel). Die Gegner der Liberalisierung machten mobil. Unterstützt wurden sie von „ganz oben“: Ende 1930 gab Papst Pius XI. die Enzyklika „Über die christliche Ehe“ heraus, in der er sich strikt gegen die Geburtenregelung aussprach und medizinische Volksaufklärung als „verbrecherische Freiheit“ bezeichnete.

Friedrich Wolf wurde aufgrund seines Engagements bald selbst verdächtigt, gegen das Gesetz verstoßen zu haben. In seiner Stuttgarter Praxis hatte er zahlreichen Frauen Atteste ausgestellt, die ihnen eine legale Abtreibung aus medizinischen Gründen bei seiner Kollegin Dr. Else Kienle ermöglichten.

Im Februar 1931 wurden deshalb beide wegen „Vergehens gegen den § 218“ verhaftet, was umgehend eine landesweite Protestkampagne entfesselte. Nach seiner Freilassung – ein Prozess fand niemals statt – trat Wolf auf zahlreichen Kundgebungen gegen den Paragraphen 218 und für die Freilassung seiner Kollegin auf, die nach einem Hungerstreik Ende März 1931 ebenfalls freikam.

Die größte Veranstaltung fand mit 15 000 Menschen am 15. April 1931 im Berliner Sportpalast statt.

Künstlerisch zwiespältig

Dem Filmmuseum Potsdam ist es zu verdanken, dass der legendäre Film von 1930 nun auf DVD vorliegt. Die Edition hat hohen dokumentarischen Wert und ist mit größter Sorgfalt hergestellt worden. Dabei wurden Negative aus dem Bundesarchiv Berlin (Abt. Filmarchiv) verwendet. Die vorliegende Fassung entspricht nicht der (zensierten und gekürzten), die das damalige Publikum in den Kinos zu sehen bekam, sie ist vollständiger.

Ein bedeutendes Filmkunstwerk sollte man allerdings nicht erwarten. Der Regisseur und Drehbuchautor Hans Tintner scheint sich nicht sicher gewesen zu sein, ob er mehr auf die damals beliebte derbe Milieuschilderung, auf schlichten Naturalismus oder auf raffinierte moderne Effekte setzen wollte. So lässt er Hete vor ihrem Ende durch die Großstadt irren und zeigt das als interessante Doppelbelichtung, eine Lösung, die aus der ansonsten anspruchslosen Inszenierung seltsam heraussticht. An seinem Zeitungskiosk wird Kuckuck von einem Chinesen angesprochen, dem dabei chinesische Schriftzeichen aus dem Mund fallen.

Ursprünglich war „Cyankali“ als reiner Stummfilm mit Texttafeln und Begleitmusik angelegt; im Schlusskapitel setzt plötzlich der Sprechton ein, was damals die Wirkung der Tragödie auf die Zuschauer erhöhte, zumal Hetes Stöhnen und ihre Schreie zu hören sind. Heute erscheint das eher als störender Bruch. Während Hete todkrank im Bett liegt, kräht die Chansonette Blandine Ebinger als kesse Hinterhofsängerin „Warum weinst du, schöne Gärtnersfrau“, was zweifellos satirisch gemeint war, aber roh und deplatziert wirkt.

Alles in allem wird deutlich, dass Tintner kein stilsicherer Regisseur und weit entfernt von künstlerischer Meisterschaft war. Auch bei der Auswahl der Schauspieler hatte er keine durchweg glückliche Hand. Wolfs Ansinnen, den Film mit der „Gruppe junger Schauspieler“ umzusetzen, ließ sich nicht realisieren, nachdem die Truppe auf Tournee gegangen war. Tintner gab der damals populären Aktrice Grete Mosheim die Hauptrolle der Hete, die sie etwas fade, mit stets wohlfrisiertem Blondhaar, wenig differenziert, aber erschreckend in den Gefühlsausbrüchen verkörperte. Sie war damals bereits neun Jahre am Deutschen Theater Berlin engagiert und hatte in mehr als einem Dutzend Filmen mitgewirkt.

Durchweg überzeugend Herma Ford als ihre verhärmte alte Mutter, passabel der Exilrusse Nico Turoff (eigentlich Nikolai Turow) als proletarischer Freund Paul, bemerkenswert in den Nebenrollen der bekannte Komiker Paul Kemp als Zeitungsverkäufer Kuckuck, Margarete Kupfer als Engelmacherin Madame Heye (sie erhielt übrigens 1952 den Nationalpreis der DDR) und Josefine Dora als Nachbarin. Viele volkstümliche „Typen“ geben dem Film Authentizität.

Der erfolgreiche Skandalstreifen wurde im März 1933 auf Anregung der NSDAP-Landesfilmstelle Bayern (und zwar in der Kategorie „Filme mit sexueller Tendenz“) verboten. Friedrich Wolf und auch die „Halbjüdin“ Grete Mosheim mussten Deutschland verlassen.

Üppige Dokumentation

Auf der zweiten DVD präsentiert das Filmmuseum die kammerspielartige Neuverfilmung von „Cyankali“ durch das DDR-Fernsehen (1977, RE: Jurij Kramer). Sie ist anständig gemacht, sehenswert, setzt auf leise Töne und hält sich mehr an Wolfs Vorlage. Renate Krößner ist vor ihrem großen Durchbruch mit „Solo Sunny“ als liebenswerte, rührend-naive Hete zu sehen, assistiert von gestandenen Schauspielern wie Hermann Beyer (Paul), Rolf Römer (Kuckuck), Annekatrin Bürger (Nachbarin) und Marianne Wünscher (Frau Heye). Die Eröffnungsszene ist sehr schön gestaltet. Man merkt aber, dass die sozialen Missstände, die Friedrich Wolf den Stoff für sein Stück lieferten, in der DDR sowohl faktisch als auch gedanklich kaum noch präsent waren. Hete stirbt schweigend.

Die Unterschiede zwischen den beiden Verfilmungen bieten viel Diskussionsstoff für Seminare.

Als besonderes Highlight enthält die Edition noch den Mitschnitt einer fast einstündigen, von Karl-Heinz Gerstner moderierten Talkshow des DDR-Fernsehens von 1977. Zu den Gästen gehörten die Chefredakteurin der Frauenzeitschrift „Für Dich“, Dr. Marlis Allendorf, die Psychologin und Eheberaterin Karin Rensner, Prof. Dr. Kurt Winter als Direktor der Akademie für ärztliche Fortbildung, Dr. Karl-Heinz Sauerteig als Chefarzt einer Gynäkologischen Abteilung, der Regisseur Jurij Kramer und drei Frauen aus der Produktion. In dieser Runde wurde nicht nur über Wolfs Stück diskutiert, sondern auch über die zwei Jahre zuvor in der DDR eingeführte Fristenregelung und ihre Auswirkungen – und das mit erstaunlicher Offenheit.

Zusätzlich wurde auf den DVDs umfangreiches Textmaterial publiziert, insgesamt über hundert Seiten. Zu den Beiträgen gehören Renate Ullrichs kenntnisreiche Abhandlung über die Geschichte der Verfilmung und ihr Gespräch mit dem Regisseur Jurij Kramer, zwei Analysen von Prof. Dr. Ursula von Keitz, der Direktorin des Museums (u. a. zur Raumordnung und Bildsprache von Tintners Film) sowie eine informative Darstellung der Soziologin Dr. Ursula Schröter über das Abtreibungsrecht in der DDR.

Die erste DVD bildet zudem wertvolle unveröffentlichte Originaldokumente aus der Entstehungszeit beider Filme ab. Bedauerlich ist, dass so wenig über den 1942 in Auschwitz ermordeten Hans Tintner mitgeteilt werden kann, der seinen berühmten Film nur um zwölf Jahre überlebte und heute vergessen ist.

Angesichts dieser Fülle sorgfältig recherchierten, erschlossenen und kommentierten Materials kann man das Filmmuseum Potsdam zu der ausgezeichneten Edition, die eigentlich ein Lehrmittel ist, nur beglückwünschen. Gedankt sei besonders dem Herausgeber Guido Altendorf, der im Vorwort des Booklets explizit auf die erschreckende Aktualität des Themas hinweist: „Nicht die Abschaffung, sondern eine denkwürdige Reform dieses Paragraphen (218) wird derzeit von Politikern der AfD eingefordert.“ In ihrem Grundsatzprogramm wendet sich die Partei gegen die „staatliche Förderung“ von Abtreibung, die kein „Menschenrecht“ sei.

„Taugt das historische Beispiel Cyankali nicht als eine Lektion und Mahnung für das Hier und Jetzt, in mehrfacher Hinsicht?“ fragt Altendorf, der das Museum in der Pflicht sieht, zur Diskussion über solche aktuell-politischen Fragen anzuregen.

Dem streitbaren Friedrich Wolf wäre es eine Genugtuung. Nicht nur sein Stück, er selbst taugt in persona glänzend als historisches Vorbild für das Hier und Jetzt.

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"„Cyankali“ – Lektion und Mahnung", UZ vom 3. März 2017



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