Zur Urabstimmung bei der Post

Das Recht auf ein „Nein“

Gewerkschaften sind demokratische Organisationen. Das unterscheidet sie von kapitalistischen Betrieben, wo nicht die Mehrheit der Beschäftigten bestimmt, sondern das Geld. Es wird nach dem zynischen Spruch gehandelt, die Treppe werde „von oben nach unten gekehrt“. Beschlüsse der Vorstände werden über die betriebliche Hierarchiekette von oben nach unten durchgereicht oder, wenn es Widerstände gibt, durchgesetzt.

Zuweilen färbt diese Demokratiefeindlichkeit sogar bis in die Köpfe von Gewerkschaftsfunktionären hinein ab. Es scheint attraktiv, ähnlich „schlank“ handeln zu können wie Unternehmen. Sie unterliegen zuweilen der Versuchung, ihre Beschlüsse nicht etwa als Vorschläge an die – letztendlich entscheidenden – Mitglieder zu verstehen, sondern als etwas, was in der Organisation durchgesetzt werden müsse. Sie werden dabei bestärkt von Medien, die regelmäßig nach einer Verhandlung zwischen den Spitzen eines Unternehmens oder eines Unternehmensverbandes auf der einen und den Spitzen der im Tarifkampf stehenden Gewerkschaft auf der anderen Seite von einem „Verhandlungsergebnis“ sprechen. Das verwischt den fundamentalen Unterschied zwischen einem kapitalistisch, also undemokratisch, organisierten Unternehmen und den demokratisch organisierten Gewerkschaften.

Insofern ist es völlig übereilt, hinsichtlich des am 11. März erzielten Verhandlungsergebnisses bei der Post von einer „Einigung“ zu sprechen. Die gibt es erst, wenn die bei ver.di organisierten Kolleginnen und Kollegen diesem Vorschlag zugestimmt haben.

Es ist an der Zeit, das „Nein“ in diesem Lande der Jasager zu lernen. Bei der jetzt anlaufenden Urabstimmung über das Verhandlungsangebot vom 11. März gilt es, selbstbewusst ein „Ja“ gegen ein „Nein“ abzuwägen und entsprechend der eigenen Interessen zu entscheiden. War denn unser Button, auf dem „15 Prozent – notwendig, gerecht, machbar“ stand, falsch? Machbar sind sie weiterhin – ausgerechnet am Tag der Einigung verkündete die Post ein Rekordergebnis, das zeigt: Das Geld für 15 Prozent ist da. Die Forderung ist auch weiterhin gerecht angesichts der immer mehr verdichteten Arbeit im Konzern. Vor allem aber ist unsere Forderung weiterhin notwendig. Die Verdoppelung der Vertragslaufzeit von ein auf zwei Jahre wird angesichts der sich festsetzenden Inflation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem spürbaren Reallohnverlust führen. Das gleicht auch die scheibchenweise monatlich kommende und zum Teil steuerfinanzierte Einmalzahlung für dieses Jahr nicht aus. Sie fließt weder in die Gehaltstabellen noch in die Rentenversorgung ein. Sie ist ein Trostpflaster, das uns die Herrschenden mit ihrem inflationstreibenden Kriegskurs verordnen wollen.

Mit dem demokratischen Selbstverständnis der Gewerkschaften unvereinbar sind die Versuche derer, die dem schlechten Kompromiss zugestimmt haben, ihn in der Organisation „durchzusetzen“. Sie haben – gemeinsam mit der Gegenseite – einen Vorschlag gemacht, mehr nicht. Sie können dafür werben, sollten aber demütig das Votum derer abwarten, die zuvor bei der ersten Urabstimmung mit 86-prozentiger Mehrheit ihre Kampfbereitschaft für eine wirkliche Reallohnsicherung zum Ausdruck gebracht haben. Ihr „Nein“ ist nicht nur ihr wohl begründetes Recht. Es wäre auch ein solidarisches Signal an diejenigen, die jetzt in ihrem Windschatten in den Tarifkämpfen stehen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Das Recht auf ein „Nein“", UZ vom 24. März 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit