Die Arroganz kannten wir doch. Die alte BRD war im Eigenverständnis Deutschland. Das sozialistische Nebenan war der Auswuchs DDR. Nach der Anerkennungsphase brachte man in Bonn zwar die drei Buchstaben über die Lippen, legte aber den seit Adenauer geltenden Alleinvertretungsanspruch für die Belange der Deutschen nie ab. Allerdings verstiegen sich die germanischen Alleinvertreter nicht dazu, nur das, was nach bundesdeutscher Pfeife tanzte, als „prodeutsch“ zu bezeichnen. Solche Scheu hat die Europäische Union abgelegt. Für sie ist „proeuropäisch“ einzig das, was ihren politischen Maßgaben und Regeln folgt. Wenn aber die EU meint, sie allein repräsentiere das europäische Haus, dann ist es Zeit für einen Blick auf die Landkarte und auf ignorierte Realitäten der europäischen Architektur. Europa mit seinen fast 750 Millionen Einwohnern ist bei weitem größer als die EU und seine Bedürfnisse sind differenzierter, als die Brüsseler Elle messen mag.
Was war im EU-Verständnis nicht alles proeuropäisch? Der Maidan-Putsch, mit dem die Ukraine um eine gedeihliche Perspektive an der Nahtstelle zwischen Russland und der Europäischen Union gebracht wurde. Die „Fuck Russia“-Mentalität der Europafahnenschwenker in Georgien, Serbien oder Moldau. Der Applaus zur Industriesabotage an Nord Stream. Proeuropäisch, wer jeden, der nach Besonnenheit im Umgang mit der Atommacht Russland strebt, als „Kreml-Idioten“ verunglimpft. Daher der Feldzug gegen die Unterzeichner des SPD-Manifests, das die Kriegsversessenheit á la Klingbeil und Pistorius bloßstellt. Wer NATO-Soldaten an Russlands Grenze postiert, neue Blockadephantasien für die Ostsee erwägt, am Tag der Befreiung auf Ehrenhainen der Sowjetsoldaten das Abspielen des „Heiligen Krieges“ verbietet, darf sich proeuropäisch nennen. Neuerdings sogar, wer dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Israels auf den Iran und der Ermordung von Atomwissenschaftlern Anerkennung zollt. Denn wie sagte Bundeskanzler Merz: „Das ist die Drecksarbeit, die Israel macht für uns alle.“
Unser Kontinent sah bessere Zeiten und weitsichtigere Politiker. Heute hätte er Fürsprecher nötig, die zur Deeskalation fähig sind. „Wertewesten“-Politiker von kleinem Format erklären ihren Drang zum Säbelrasseln mit einem verschärften politischen Klima, das sie in Ermangelung weltpolitischen Verantwortungsgefühls selbst provoziert haben. Denken wir nach vorn, indem wir uns erinnern: Vor einem halben Jahrhundert, zu einer Zeit härtester Konfrontation, unterzeichneten 35 Regierungen auf der KSZE die Schlussakte von Helsinki. Wahrung von Gleichheit und territorialer Integrität aller Staaten, von Menschenrechten und persönlichen Freiheiten, Verzicht auf Gewaltandrohung und Einmischung in innere Angelegenheiten, dafür gedeihliche Zusammenarbeit auf vielen Gebieten – das war das friedenssichernde Credo aus der finnischen Hauptstadt. Der NATO-Angriff auf Jugoslawien und der Irak-Krieg, beide völkerrechtswidrig geführt, später das vermeidbare Blutvergießen in der Ukraine und die vom Westen sabotierte Umsetzung des Minsker Abkommens, ebenso die vom Westen ausgehende Aufkündigung wichtiger Vereinbarungen zu Rüstungskontrolle und Abrüstung haben den Geist von Helsinki zerstört.
Unwiderruflich? Nicht, wenn sich die Friedensbewegung in Europa und Deutschland kräftiger formiert. Von den Regierenden ist nichts zu erwarten. Es braucht den Druck von unten. Also: Den Ukraine-Krieg durch Diplomatie beenden! Den Rüstungswettlauf stoppen! Die im Atomwaffensperrvertrag verankerte Verpflichtung zu nuklearer Abrüstung und den New-Start-Vertrag beleben! Die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland verhindern! Die Gelder des Volkes nicht in unselige Kriegsvorbereitungen, sondern in die Lösung dringendster wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer Aufgaben stecken! Das im guten Einvernehmen aller Völker des Kontinents zu erreichen wäre proeuropäisch.