Hanns Eisler zum 125. Geburtstag

„… Denn nicht Mächtiges ist unser Singen, aber zum Leben gehört es“

Georg Klemp

Vor 125 Jahren, am 6. Juli 1898, wurde mit Hanns Eisler einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts geboren. Kaum ein anderer Komponist hat wie er sein Schaffen ganz in den Dienst der Arbeiterbewegung und des gesellschaftlichen Fortschritts gestellt.
Fragt man nach der Bedeutung von Hanns Eisler, so wird man unterschiedliche Antworten bekommen, je nachdem, wen man fragt. In politisch linken Kreisen sind heute noch zahlreiche Kampflieder lebendig wie das Einheitsfrontlied, das Solidaritätslied, die Vertonungen von Majakowski-Gedichten (besonders in der Interpretation von Ernst Busch), die Lieder der Interbrigaden aus dem spanischen Bürgerkrieg, Lieder aus den Theatermusiken zu Brechts Stücken, die Kantate zur „Mutter“ (op. 25) und viele andere politische Kampfmusiken. Diese hält man hier für den entscheidenden Teil in Eislers Werk. Mit den Kunstliedern, Orchester- und Kammermusikwerken beschäftigt man sich meistens nur wenig.

Von bürgerlicher Seite wird Eisler in der Regel als bedeutender Schüler Arnold Schönbergs angesehen, der sein Talent – leider – aufgrund seiner „politischen Verblendung“ einer falschen Sache gewidmet habe. Die politischen Lieder werden als vernachlässigbare Nebenprodukte angesehen. Seine im Exil geschriebenen Lieder, die dem Genre des Kunstlieds angehören wie das „Hollywooder Liederbuch“, Eislers letztes Werk mit dem Titel „Ernste Gesänge“ für Bariton und Streichorchester sowie einige Kammermusikwerke, werden dagegen lobend erwähnt. Sehr schnell kommt dann zumeist die Sprache auf das unvollendete Projekt einer Faust-Oper, zu der Eisler das Libretto und einige Skizzen schrieb, weil hier ein Widerspruch zur Führung der DDR in der Frage des Umgangs mit dem klassischen Erbe festgestellt und zu einem Hauptmoment in der Biografie Eislers aufgebauscht werden kann.

Die „Deutsche Sinfonie“ – eine Zukunftsmusik

Einige großformatige Werke wie Eislers Hauptwerk, die „Deutsche Sinfonie“ (op. 50) und das „Lenin-Requiem“, werden von beiden Seiten kaum rezipiert: die Verwendung moderner Kompositionsmittel erschwert dem musikalisch nicht geschulten Hörer den spontanen Zugang. Der bürgerliche Musikbetrieb auf der anderen Seite wird durch die politisch eindeutigen Aussagen abgeschreckt. So ist in der „Deutschen Sinfonie“ zum Beispiel Brechts „Lied vom Klassenfeind“ integriert, betitelt als „Arbeiterkantate“. Wesentlich populärer als diese Vertonung wurde die von Ernst Busch gesungene Version, die von Rolf Lukowsky stammt und dem Genre des politischen Liedes angehört. Auch der Text von Brechts „Zu Potsdam unter den Eichen“ findet Verwendung, den man sonst als politisches Lied in der Version von Kurt Weill kennt.

Vergleicht man die Kompositionsweise der politischen Lieder mit den genannten sinfonischen Werken, so wird deutlich, worin die Schwierigkeit besteht, die kunstmusikalischen Vertonungen aufzufassen: es ist der Umgang mit Wiederholungen und Symmetrie in der melodischen Gestaltung. Die politischen Lieder sind meistens strophisch komponiert (die einzelnen Strophen werden mit der gleichen Musik unterlegt) und im Volksliedduktus symmetrisch gegliedert. Trotz der gelegentlichen Verwendung einer ungewöhnlichen Harmonisierung bleiben sie im gewohnten harmonischen tonalen Rahmen. Für eine maximale Textverständlichkeit ist die Begleitung meistens sehr sparsam gehalten. Obwohl die musikalischen Mittel im politischen Lied bewusst zurückgenommen werden, ist die Gestaltung im Detail deshalb nicht weniger kunstvoll.

In der „Deutschen Sinfonie“ und im „Lenin-Requiem“ setzt Eisler dagegen mit Schönbergs Zwölftontechnik die damals fortgeschrittenste Kompositionsmethode ein, in der das Vermeiden von Wiederholungen zum Prinzip erhoben wird, was allen Hörgewohnheiten widerspricht. Natürlich sind die Texte daher auch nicht mehr strophisch gestaltet, sondern durchkomponiert, wie es im Fachjargon heißt. Auch wenn Eisler die Methode der Zwölftontechnik nicht dogmatisch anwendet und in einer Weise einsetzt, dass gesangliche Linien entstehen und Dissonanzen nicht in der Weise überhand nehmen wie bei Schönberg, sind die so entstandenen Melodien deutlich weniger einprägsam. Dafür können sie auf den konkreten Textinhalt umso genauer reagieren.

Beide Formen, das mit schlichten Mitteln gearbeitete politische Lied ebenso wie die komplexe Kunstmusik, gehören zu Eislers handwerklichem Repertoire. Wann setzte er welche Mittel ein und nach welchen Kriterien?
Für eine „gesellschaftliche Umfunktionierung der Musik“
Die Antwort auf diese Frage liefert ein Text, den Eisler 1936 unter dem Titel „Gesellschaftliche Umfunktionierung der Musik“ veröffentlichte. Darin beschreibt er eine Herangehensweise, die vielleicht zu den bleibenden und allgemeingültigen Vorgehensweisen eines Komponisten gehört, der auf marxistischer Grundlage arbeitet: Musik soll nützlich werden im Sinn des gesellschaftlichen Fortschritts. Nicht subjektive Gefühle sollen ausgedrückt, auch keine Materialrevolution vom Zaun gebrochen werden. Stattdessen geht es darum, Textinhalte zu transportieren, das Mitdenken zu fördern statt Rauschzustände zu erzeugen, progressive Haltungen zu gesellschaftlichen Fragen zu unterstützen oder rückständige Haltungen aufzulösen. Musik soll dabei immer konkret auf eine Zielgruppe beziehungsweise. auf eine Situation bezogen sein: für Lieder, die von Arbeitern gesungen werden, setzt Eisler andere Mittel ein als für die Darstellung komplizierterer Sachverhalte in Lehrgedichten. Während erstere leicht verständlich gehalten sein sollen, können für letztere kompliziertere Mittel eingesetzt werden. Auch absolute Instrumentalmusik hat ihren Platz, wenn neue kompositorische Mittel erprobt werden sollen, aber nicht als Selbstzweck, sondern für konkrete Ziele. Moderne Kompositionstechniken können am ehesten in Verbindung mit Texten oder Filmszenen eingesetzt werden, wo deren Einsatz unmittelbar verständlich werden kann. Vom modernen Komponisten fordert Eisler die Beherrschung „mehrerer Schreibweisen“, die je nach dem konkreten Bedarf eingesetzt werden, anstatt das Ziel zu verfolgen, einen unverwechselbaren Personalstil auszubilden, mit dem der Komponist seine individuelle Befindlichkeit ausdrückt.

Während Eisler mit der politisch eingreifenden Musik – neben den Massenliedern auch die Vertonung von Lehrstücken und Chören – auf konkrete Situationen reagierte, schrieb er die „Deutsche Sinfonie“, das „Lenin-Requiem“ und viele bedeutende Kunstlieder im Exil unter gänzlich anderen Bedingungen. Hier war ihm die konkrete politische Wirksamkeit versagt. Die Zielgruppe, für die er bisher vorwiegend geschrieben hatte, die deutsche Arbeiterbewegung, war für ihn in dieser Zeit unerreichbar. Diese Werke entstanden also zunächst für die Schublade, waren Zukunftsmusik, adressiert an eine zukünftige Gesellschaft. Als antifaschistisches Vermächtnis stellt Eisler in der „Deutschen Sinfonie“ den antifaschistischen Kampf in einen größeren historischen Zusammenhang. Ohne Rücksicht auf konkrete Mittel und Fähigkeiten zur Aufführung so groß angelegter Werke, ohne Rücksichtnahme auch auf das musikalische Verständnis eines konkreten Publikums, setzte er alle Mittel ein, die zur Darstellung der komplexen Thematik notwendig waren.

Eislers Vermächtnis als marxistischer Musiktheoretiker

Zu Eislers bleibender Bedeutung gehört neben seinen Kompositionen auch das musiktheoretische Schaffen, das in zahlreichen Einzelartikeln und Essays überliefert ist, sowie in Interviews. Die wichtigsten Artikel wurden zu der Textsammlung „Materialien zu einer Dialektik der Musik“ zusammengefasst, die wichtigsten Interviews sind unter dem Titel „Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge“ erschienen. Neben grundsätzlichen Überlegungen zur Musik zeigen hier die Besprechungen einzelner Komponisten grundlegende Ansichten Eislers zu einer zeitgemäßen Musik auf, die auch für uns heute noch von Bedeutung sind.

Grundsätzlich lehnte Eisler keine Kompositionsmethoden oder einzelne Stile ab, sondern betrachtete die Wirkung auf den Hörer in Abhängigkeit von den politischen Zielen. Eine Hauptkritik zielte auf die Rauschwirkung von Musik ab, die er gleichermaßen in Werken Wagners und seiner Epigonen wie auch im Jazz, in der Unterhaltungsmusik vom Boogie-Woogie über den Schlager bis hin zur Operette am Werk sah. Die „Rauschgiftwirkung“ von Musik machte er verantwortlich für einen immer mehr um sich greifenden Musikanalphabetismus. Den Einsatz solcher rauschhaften Mittel lehnte er auch für politisch progressive Ziele als schädlich ab. Sie fielen für ihn unter das Verdikt der „Dummheit in der Musik“. Umgekehrt traf dieses Urteil auch den Einsatz fortschrittlicher musikalischer Mittel für gesellschaftlich rückschrittliche Ziele.

Auf der anderen Seite kritisierte er genauso eine gefühlskalte, scheinbar „objektive“ Musik, die das Merkmal einer damals verbreiteten Strömung der musikalischen Moderne war, des Neoklassizismus. Bedeutende Komponisten wie Strawinsky, Hindemith, die Franzosen aus der Gruppe „Les Six“ entwickelten sich nach modernistischen Anfängen in diese Richtung. Auch die inhaltsleere Spielmusik einer neuen Laienbewegung, die mit den Namen Hindemith und Fritz Jöde verbunden ist, kritisierte Eisler, da auch sie nicht die neuen gesellschaftlichen Aufgaben thematisierte, die von der Arbeiterbewegung auf die Tagesordnung gesetzt worden waren.

Am anderen Pol der bürgerlichen Musikkultur stand die Tradition der Spätromantik, die von einem übersteigerten Individualismus geprägt war. Gustav Mahler und Richard Strauss schrieben Weltanschauungssinfonien, komponierten psychologische Dramen, Stimmungs- und private Gefühlsmusik mit ihren Werken. Komponisten wie Arnold Schönberg und andere Neuerer trieben auf der gleichen inhaltlichen Grundlage die Entwicklung der Kompositionstechnik weiter voran und waren Revolutionäre auf dem Gebiet der musikalischen Materialentwicklung. Thematisch interessierten sie sich ebenso wenig für die sozialen Probleme ihrer Zeit wie sie gleichgültig der Frage gegenüberstanden, ob ihre Musik auch gehört und verstanden wurde.

Gegenüber einer jüngeren Generation von Kompositionsschülern, die noch keinen Zugang zu politischen Zeitfragen gefunden hatten, kritisierte Eisler die Verwendung zu einseitiger Ausdruckscharaktere. Das Leben sei reichhaltiger als die immer gleichen langsamen Sätze, wie sie damals Mode waren. Der Einsatz vielfältiger Mittel, um eine reichhaltige Ausdrucksskala zur Verfügung zu haben, war ihm wichtig.

Gegen eine übertriebene ­Politisierung von Musik

Bei aller Kritik an einzelnen Komponisten warnte Eisler immer wieder vor der Überheblichkeit von Genossen, die, politisch auf der richtigen Seite stehend, meinten, bedeutende Künstler abqualifizieren zu können, die noch nicht zu progressiven gesellschaftspolitischen Einsichten vorgedrungen waren. Insbesondere seinen Lehrer Schönberg verteidigte er gegen Kritik, aber auch die Leistungen von Wagner, Strauss, Strawinsky, Honegger und anderen würdigte er bei aller Ablehnung ihrer Methoden und Überzeugungen, da ihre Musik unbestreitbar eine hohe Qualität besitzt.

Sogar die scharfe Kritik an der schädlichen Wirkung der Unterhaltungsmusik relativierte Eisler in dem Moment, wo es in der DDR um ordnungspolitische Maßnahmen wie Verbote ging. Er warnte davor, auf ästhetischem Gebiet alles zu politisieren, US-amerikanische Einflüsse durch Verbote zu verdrängen statt sie durch gute Bildungsarbeit zu überwinden. Letztendlich rückte Eisler auch immer wieder die Verhältnisse zurecht, indem er zwar dafür eintrat, Musik und Kunst in den Dienst des Fortschritts zu stellen, andererseits aber auch darauf hinwies, dass die Revolution nicht von der Kunst gemacht oder verhindert wird. In diesem Sinn gewinnt der Satz von Hölderlin aus dem Gedicht „Der Gang aufs Land. An Landauer“ eine grundsätzliche Bedeutung: „Denn nicht Mächtiges ist’s, zum Leben aber gehört es, was wir wollen“, den Eisler in den „ernsten Gesängen“ abwandelte zu: „Denn nicht Mächtiges ist unser Singen, aber zum Leben gehört es.“ Eine Verkehrung der Verhältnisse führt letztendlich zu einem falschen Idealismus.

Was bleibt

Was bleibt heute von Eislers Erkenntnissen aktuell? Natürlich haben wir es heute mit anderen Kompositionsmethoden, mit anderen gesellschaftlichen Verhältnissen und Aufgaben zu tun. Es hätte wenig Sinn, auf gleiche Weise wie Eisler mit Agitpropchören durch die Straßen zu ziehen, seinen Kompositionsstil zum absoluten Ideal zu erheben oder die theoretischen Texte unverändert auf heute zu übertragen.

Was bleibt, ist der Ansatz, auf musikalischem Gebiet danach zu fragen, welche künstlerischen Mittel in einer konkreten Situation geeignet sind, ein kritisches Bewusstsein zu fördern, oder welche es behindern. Was bleibt, ist der Ansatz, Künstler kritisch im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Haltung zu begleiten und die bewusste Abkapselung von sozialen Inhalten zu kritisieren. Was bleibt, ist gleichzeitig auch, künstlerische Leistungen in ihrem Eigenwert auch dort anzuerkennen, wo das progressive Bewusstsein noch fehlt und nicht gut gemeinte mit guter Kunst zu verwechseln.

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"„… Denn nicht Mächtiges ist unser Singen, aber zum Leben gehört es“", UZ vom 7. Juli 2023



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