Nach dem Polizeimord an einem 17-jährigen im Pariser Vorort Nanterre entlädt sich die Wut über die tödlichste Polizei Europas

Der Mord zuviel

Die Bilder sind schwer zu ertragen: Zwei behelmte Polizisten kontrollieren den Fahrer eines gelben Autos. Einer von ihnen zielt mit einer Waffe auf den Fahrer und brüllt: „Ich schieß’ dir in den Kopf!“ Der Wagen setzt sich langsam in Bewegung. Der Polizist schießt. Der Wagen fährt gegen einen Laternenpfahl. Kurz darauf ist der Fahrer tot. Der Polizist hatte ihn in die Brust getroffen. Nahelheisst das Opfer. Als der Polizist ihn ermordete, war er 17 Jahre alt und ging noch zur Schule. Nach dem Abitur wollte er eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker beginnen. Er jobbte als Pizzalieferant, um seine alleinerziehende Mutter finanziell zu unterstützen.

Nahel ist kein Einzelfall. Alleine im Jahr 2022 erschoss die französische Polizei 13 Menschen bei Verkehrskontrollen, die „den Gehorsam verweigerten“.

2017 hatte der sozialdemokratische Präsident François Hollande die Regeln für polizeilichen Schusswaffeneinsatz deutlich gelockert. Seitdem dürfen Polizisten in Frankreich schießen, sobald jemand „den Gehorsam verweigert“. Der amtierende Präsident Emmanuel Macron erweiterte die Befugnisse der Polizei 2020 und 2022 noch. Die Zahl der Opfer tödlicher Polizeigewalt ist seitdem signifikant gestiegen. Die französische Polizei, sagt der Soziologe Sebastien Roché, sei mittlerweile die tödlichste Europas. Fast alle Opfer sind Migranten oder Nachfahren von Migranten, fast alle kommen aus den Banlieus, den Vorstädten sozialen Brennpunkten der Pariser Vorstädte.

So auch Nahel. Das Video der Verkehrskontrolle zeigt, dass er regelrecht hingerichtet wurde. Es ging in kürzester Zeit in den sozialen Medien viral. Die Presseagentur AFP hat es authentifiziert. Die Polizeibeamten, die ihr Opfer noch wegen „versuchten Totschlags“ angezeigt hatten, können sich nicht herausreden. Der ermittelnde Staatsanwalt Pascal Prache erklärte, die rechtlichen Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch seien in diesem Fall nicht erfüllt gewesen. Er ließ den Todesschützen in Untersuchungshaft nehmen.

Noch am Abend des 27. Juni strömten Menschen vor die Polizeiwache von Nanterre, um gegen den Polizeimord zu demonstrieren. Sie errichteten Barrikaden und griffen Polizisten mit Feuerwerkskörpern an. Zu spontanen Demonstrationen und Unruhen kam es auch in weiteren Pariser Vorstädten. In Mantes-la-Jolie zündeten Protestierende das Rathaus an. Die Polizei ging mit Gummigeschossen und Tränengas gegen Demonstranten vor. Am frühen Morgen gaben die Beamten dem Druck der Straße nach und zogen sich aus den Banlieus zurück. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gab es wieder Revolten im Pariser Umland. Auch in Lille, Lyon, Marseille, Toulouse und weiteren Großstädten entlud sich die Wut überwiegend jugendlicher Demonstranten auf Polizeistationen, Rathäuser und Banken.

Innenminister Gérald Darmanin erklärte am Donnerstag morgen, mindestens 150 Menschen seien in dieser „Nacht unerträglicher Gewalt gegen Symbole der Republik“ festgenommen worden. Er dankte den Polizisten, „die sich mutig den Gewalttätern in ganz Frankreich stellen“ und kündigte an, landesweit 40.000 Polizisten zu mobilisieren.

Freitag morgen meldete Darmanin dann 667 Festnahmen in der vergangenen Nacht, darunter viele Kinder und junge Männer. Das Innenministerium hatte die Anti-Terror-Einheit BRI und die GIGN, eine Spezialeinheit der Gendarmerie, aktiviert. In Clichy-sous-Bois brannte das Rathaus, in Reims stürmten Demonstranten das Polizeikommissariat.

Die Französische Kommunistische Partei (PCF) sprach der Familie und den Freunden Nahels ihr Mitgefühl aus. Verweigerter Gehorsam dürfe nicht mit dem Tod bestraft werden. Der Nationalsekretär der PCF, Fabien Roussel, nahm an einem Trauermarsch am Donnerstag Nachmittag in Nanterre teil. Er rief zu friedlichen Protesten gegen die Polizeigewalt auf und forderte, die Wahrheit über das Vorgehen der Beamten in Nanterre müsse ans Licht gebracht werden und der Gerechtigkeit genüge getan werden.

Mehrere linke Bürgermeister von Pariser Vorortgemeinden forderten ebenfalls Gerechtigkeit für Nahel. Denis Ömür Öztorun (PCF), Bürgermeister von Bonneuil-sur-Marne, äußerte Verständnis für die Wut der Protestierenden, ohne deren Aktionen zu unterstützen: „Wir sind die letzten Symbole der Republik, dieser Republik, die ihre Jugendlichen schlecht behandelt, die sie austrocknet. Gibt es eine Republik der Reichen und eine Republik der Armen, und wenn es diese Trennung gibt, warum muss sich dann die Republik der Armen so abmühen?“

Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise) sagte, die Polizei müsse „komplett neu gegründet und die Mörder bestraft werden“. Ähnlich äußerte sich der Gewerkschaftsverband CGT in einer Pressemitteilung: Die polizeiliche Gewaltausübung müsse tiefgehend reformiert werden, die Polizei wieder in den Dienst der Öffentlichkeit gestellt werden.

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