Ein Artikel von Wilhelm Pieck im „Neuen Deutschland“ vom 21. Februar 1947

Der Sinn der Entnazifizierung

Wilhelm Pieck

Gegenüber dem grauenhaften Verbrechen, das die Hitlerbande mit ihrer Kulturbarbarei und ihrem wahnsinnigen Eroberungs- und Vernichtungskrieg an der Menschheit beging und wozu sie das deutsche Volk und seinen Namen missbrauchte, fordern die Völker feste Garantien gegen eine nochmalige Aggression von deutscher Seite. Es ist anzunehmen, dass diese Garantien zum Teil durch die Zerstörung aller dem Kriege dienenden Einrichtungen und Unternehmungen, durch die Bestrafung der Kriegsverbrecher und Naziaktivisten und durch die Säuberung Deutschlands von dieser Verbrecherbande geschaffen werden.

Das deutsche Volk muss Sicherheiten dafür schaffen, dass niemals mehr von deutscher Seite der Frieden bedroht wird und die Nachbarvölker vor einem erneuten Überfall unbedingt sicher sein können. Dazu gehört die völlige Entmachtung der reaktionären Kräfte, die in Deutschland immer die Träger des Militarismus und des Imperialismus waren. Diese Kräfte sind zugleich die Feinde des deutschen Volkes, es sind die junkerlichen Großgrundbesitzer und die Monopol- und Konzernherren, es ist die obere Militärkaste und Staatsbürokratie. Deren Entmachtung muss durch die vom Willen des Volkes getragenen demokratischen Organe durchgeführt werden.

Von den Gerichten ist erst eine sehr kleine Zahl der Kriegsverbrecher und Naziaktivisten verurteilt und für ihre auch am deutschen Volke begangenen Verbrechen mit dem Tode bestraft worden. Viele andere werden noch vor Gericht gestellt und zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem ist es nur eine verhältnismäßig kleine Zahl der wahren Schuldigen an dem großen Unglück unseres Volkes. Soll unser Volk und damit auch die Welt vor diesen Ungeheuern sicher sein, so müssen noch sehr energischere Strafmaßnahmen gegen sie unternommen werden. Hierzu muss unser Volk durch seine demokratischen Organe selber die Initiative ergreifen. Es gilt alle wirklich Schuldigen ausfindig zu machen und ihre Verbrechen festzustellen, damit sie von den deutschen Gerichten ihre gerechte Strafe erhalten. Darauf sollte die ganze Aufmerksamkeit der antifaschistisch-demokratischen Parteien und Massenorganisationen, der Entnazifizierungskommissionen und -ausschüsse gerichtet sein.

Weiter ist eine breite ideologische Umerziehungsarbeit im Geiste der Demokratie und der Völkerverständigung notwendig. Die Hirne des deutschen Volkes müssen restlos befreit werden von dem verhängnisvollen Nazigeist der Welteroberungssucht und der Rassenüberheblichkeit, der im Hitlerstaate zur Grundlage der Volkserziehung gemacht wurde. In den höheren Lehranstalten und in den Volksschulen ist eine sehr gründliche Arbeit zu leisten, um die Jugend von diesem Geist zu befreien und sie für das neue demokratische Deutschland zu gewinnen. Die Säuberung der Lehrkörper dieser Lehranstalten von den aktiven Vertretern dieses Nazigeistes ist eine ebenso dringende wie notwendige Aufgabe der Entnazifizierung Deutschlands. Mit dieser Aufgabe schließt sich der Kreis der Verpflichtungen unseres Volkes, Deutschland für immer von den Kriegsverbrechern und Naziaktivisten zu befreien und unserem Volke wieder seinen Platz in der Gemeinschaft der demokratisch gesinnten und friedliebenden Völker zu verschaffen.

Wesentlich anders steht die Frage der Entnazifizierung gegenüber den Millionenmassen, die auf den Nazischwindel hereinfielen und Mitglieder der Nazipartei wurden. Die Mehrheit von ihnen besteht aus Angehörigen des werktätigen Volkes. Sie sind im guten Glauben an die Versprechungen der Hitlerbande gefolgt und haben angefangen, zu begreifen, wie sehr sie betrogen worden sind. Ihnen gegenüber muss selbstverständlich in der Beurteilung ihres Verhaltens ein anderer Maßstab angelegt werden als gegenüber den Kriegsverbrechern und Naziaktivisten. Wenn diese Massen auch nicht frei von jeglicher Schuld zu sprechen sind, so muss doch alles getan werden, ihnen verständlich zu machen, dass ein neuer Weg gegangen werden muss, um Deutschland aus dem Unglück herauszuführen und seinen Wiederaufstieg zu ermöglichen. Es würde aber diese Aufgabe sehr erschweren, wenn gegen sie auch jetzt noch mit Strafmaßnahmen, Entlassung aus der Arbeit, Beschlagnahme ihres Eigentums oder Verächtlichmachung vorgegangen wird.

Der Unterschied in der Beurteilung der ehemaligen einfachen Nazimitglieder gegenüber den Kriegsverbrechern und Naziaktivisten ermöglicht auch die Änderung des gegenwärtigen Entnazifizierungsverfahrens. In den dazu eingesetzten Kommissionen werden Akten und Fragebogen über eine unabsehbare Masse von ehemaligen einfachen Nazimitgliedern geprüft. Aber das ist ein Verfahren, bei dem nur eine dauernde Beunruhigung unter diese Massen getragen wird, während die wirklichen Naziverbrecher es verstehen, sich der Verantwortung zu entziehen. Es wäre im Interesse der Entnazifizierung Deutschlands sehr viel nützlicher, wenn diese Kommissionen und Ausschüsse sich die Aufgabe stellten, in Verbindung mit den antifaschistisch-demokratischen Parteien, Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen die wahren Schuldigen und ihre Verbrechen festzustellen und sie den Gerichten zu überweisen. Das würde sehr viel schneller zu der Säuberung Deutschlands von den Kriegsverbrechern und Naziaktivisten führen.

Der Sinn der Entnazifizierung besteht also darin, die wahren Schuldigen an dem Kriegsverbrechen mit aller Strenge zu bestrafen und unschädlich zu machen. Nur so wird das deutsche Volk wieder Vertrauen bei den anderen Völkern gewinnen und selbst Garantien dafür schaffen, dass die Reaktion niemals wieder zur Herrschaft gelangt, der Frieden niemals mehr von deutscher Seite bedroht wird, sondern ein demokratisches und friedliches Deutschland ersteht.

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"Der Sinn der Entnazifizierung", UZ vom 12. August 2022



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