1956 und 2021: Schikanen und Repressalien gegen die marxistische Weltanschauung

„Du denkst, also sollst du nicht sein“

Im August 1956 wurde in der BRD die KPD verboten. Sie war die politische Hauptkraft im Widerstand gegen den Hitlerfaschismus gewesen. Wer gegen das Verbot verstieß, musste mit Verfolgung, Gefängnis oder sogar Zuchthaus rechnen. Das ist nicht allein graue Vergangenheit – Auswirkungen des Verbots halten auch nach 65 Jahren weiter an. Der Platz des Marxismus in der deutschen Gesellschaft bleibt weiter hart umkämpft. 2021 sollte die DKP durch Nichtzulassung zur Bundestagswahl faktisch politisch ausgeschaltet werden. Natürlich ging es dabei nicht um die Frage, ob und wann irgendwelche bürokratischen Versäumnisse diesen Vorstoß des Bundeswahlleiters erleichtert hatten. Es ging und geht nicht nur um die Legitimität einer Organisation, sondern um den Platz des Marxismus und Leninismus als einheitlicher und wissenschaftlicher Weltanschauung im geistig-kulturellen und politischen Gesamttableau des „Heimatlandes“ von Karl Marx und Friedrich Engels.

Beide waren in den vergangenen Jahren anlässlich ihrer jeweiligen 200. Geburtsjubiläen (Marx 2018 und Engels 2020) auch von staatlichen Repräsentanten aller Ebenen – in trauter Eintracht mit führenden Vertretern der Tourismusbranche – als international anerkannte Persönlichkeiten und als „Tourismusmagneten“ in bislang unbekanntem Ausmaß gefeiert worden. Doch gilt auch für diese nunmehr öffentlich anerkannten geistigen Größen unausgesprochen der Satz „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer“. Denn gleichzeitig wurde und wird neben dem organisierten und politisch aktiven Marxismus auch das Erscheinen der einzigen marxistischen Tageszeitung der BRD, der „jungen Welt“, und deren Anteil an der Verbreitung marxistischer Positionen in existenzbedrohendem Ausmaß sabotiert.

Kampf gegen den Marxismus

1996 wurden auf einem Hearing der PDS zum 40. Jahrestag des KPD-Verbots folgende Zahlen zur Verurteilung von Mitgliedern der KPD genannt: „Die Zahl der durch die Justizbehörden in Gefängnisse verbrachten Bundesbürger lag vor dem KPD-Verbot bereits bei 3.000 und erhöhte sich nach dem Verbot – ohne kurzfristige Festnahmen – noch einmal bis auf insgesamt 10.000 …, die teilweise zu mehrjährigen Haftstrafen, oft mit nachfolgenden Nebenstrafen, und zur Polizeiaufsicht verurteilt wurden.“ Insgesamt kam es zu rund 250.00 politischen Ermittlungsverfahren wegen „Verstoßes gegen das KPD-Verbot“. Doch die Vertreter der Bundesregierung waren 1956 nicht nur angetreten, die KPD als „verfassungswidrige“ politische Organisation verbieten zu lassen. Sie wollten vor allem ihre wissenschaftliche Weltanschauung kriminalisieren. Das richtete sich jedoch eindeutig gegen die Substanz des Menschenrechtskatalogs des Grundgesetzes. Betroffen waren

  • das Diskriminierungsverbot in Artikel 3, Absatz 3 GG,
  • die in Artikel 4 GG geschützte Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, und
  • die in Art. 5 Abs. 3 GG garantierte Freiheit von Wissenschaft und Lehre.

Das zwang die Vertreter der Bundesregierung und auch das Bundesverfassungsgericht zu tolldreisten juristischen Manövern und Tricks.
Der erste Punkt des Verbotsantrags stand unter der Überschrift: „Die Lehre des Marxismus-Leninismus-Stalinismus als ideologische Zielsetzung der KPD“. Erst an zweiter Stelle folgten angeblich verfassungsfeindliche aktuelle politische Ziele unter dem Stichwort „Übertragung der in der Sowjetischen Besatzungszone bestehenden Ordnung auf die Bundesrepublik“. Und an dritter Stelle kamen schließlich Argumente und Belege für die als verfassungsfeindlich beurteilte Praxis der KPD. Dafür lautete das Stichwort: „Der ‚nationale Widerstand‘ als Mittel der KPD zur Erlangung der Herrschaft der ‚Arbeiterklasse‘, d. h. der Diktatur in der Bundesrepublik.“

Dem wurde ein geradezu „philosophisch“ anmutendes Theorem zugrunde gelegt.

0112 13 01 Kundgebung waehrend des KPD Verbotsverfahrens Januar 1955 Toni Tripp UZ Archiv - „Du denkst, also sollst du nicht sein“ - Geschichte der Arbeiterbewegung, KPD, Repression - Hintergrund
Kundgebung während des KPD-Verbotsverfahrens, Januar 1955 (Foto: Toni Tripp / UZ-Archiv)

„Du existierst, du denkst“ – das darf es nicht geben“

Der französische Philosoph René Des­cartes hat den berühmten Satz „Cogito ergo sum“ geprägt („Ich denke, also bin ich“). Der Verbotsantrag argumentierte im Sinne eines verballhornten Descartes etwa so: „Du denkst, also sollst du nicht sein.“ Denn als „Beweis“ für die angeblich grundsätzlich verfassungsfeindliche Zielsetzung der KPD verwies der Verbotsantrag auf nur zwei grundlegende Dokumente: das Statut der KPD und die „Richtlinien“ („Die Rolle und der Aufbau der Kommunistischen Partei Deutschlands“). Dazu hieß es dann im Verbotsantrag lapidar:

„Diese Zielsetzung der KPD reicht für sich allein schon aus, um sie im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG für verfassungswidrig zu erklären.“

Besonders die statutarische „innere Gestaltung“ der KPD, ihre angebliche „Diffamierung aller, die ihrer Herkunft und Gesinnung nach nicht der Arbeiterklasse im Sinne der marxistisch-leninistisch-stalinistischen Lehre angehören, die eiserne Parteidisziplin, die ihren Ausdruck in der Verhinderung jeder möglichen, auf demokratischem Weg entstandenen Meinungsbildung innerhalb der Partei findet“ –, all das ließ angeblich nur eine Schlussfolgerung für das Verfassungsgericht zu: „Die KPD bildet (…) ein Instrument, das durch seine Beschaffenheit als politische Partei, aber undemokratische Organisation, bereits durch sein bloßes Vorhandensein verfassungswidrig ist.“

Es ging also nicht um beweisbare oder widerlegbare Fakten und Taten. Es ging schlicht um das „Vorhandensein“ der Partei. Damit war eine Prozessführung auch nur halbwegs nach „rechtsstaatlichen Regeln“ eigentlich unnötig und auch unmöglich.

Gegen die marxistisch-leninistische Weltanschauung

Zum Zweck der Feststellung einer „genuinen“, das heißt grundsätzlichen und wesensmäßigen Verfassungsfeindlichkeit der KPD beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht gleich zu Beginn des Prozesses ausführlich mit dem, was die Bundesregierung für „Marxismus-Leninismus“ beziehungsweise „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“ hielt. Dieser „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“ lief auf eine willkürlich zusammengeklaubte Mischung von Zitaten aus allen möglichen Schriften aus allen möglichen Zeiten hinaus. Das veranlasste den KPD-Verteidiger Dr. Herbert Kröger, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, zu einer spöttischen Bemerkung gegenüber dem die Sitzung leitenden Verfassungsrichter Franz Wessel: „Herr Präsident, Sie können doch nicht aus einem einheitlichen Lehrgefüge nach Belieben drei oder vier Punkte herausnehmen und deren Verfassungswidrigkeit untersuchen wollen. Ich bitte um Entschuldigung wegen des Vergleichs, aber es ist genau so, als ob einer ein System der Rechtswissenschaft vortragen will und mit § 22 der Konkursordnung anfängt. So was kommt dabei heraus. Notwendigerweise. Die Dinge werden aus dem Zusammenhang gerissen, werden entstellt.“

Herumlavieren des Gerichts

Kröger konnte sich dabei auf einen Satz von Verfassungsrichter Dr. Erwin Stein beziehen. Dieser hatte sich auf einen Disput über den Marxismus beziehungsweise Marxismus-Leninismus und dessen Charakter als einer in der gesamten europäischen Geistesgeschichte wurzelnden Wissenschaft eingelassen. Krögers Hinweis hatte gelautet:

„Der Marxismus-Leninismus ist ein einheitliches, in sich geschlossenes wissenschaftliches System, das in sich vereinigt:

  • den dialektischen und den historischen Materialismus als die Wissenschaft von den Entwicklungsgesetzen der Natur und der Gesellschaft,
  • die politische Ökonomie,
  • die Wissenschaft vom Klassenkampf und vom Sozialismus.“

Darauf hatte dann Dr. Stein entgegnet: „Die einheitliche Wissenschaft und die wissenschaftlich fundierte Weltanschauung ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens und im Übrigen ist ja – da stimmt das Gericht mit Ihnen überein – ein gerichtliches Verfahren für die Frage der Richtigkeit oder der Unrichtigkeit einer wissenschaftlichen Theorie nicht adäquat.“

Das war ein glatter Punktsieg für die KPD. Nach einer wahren Wortschlacht war es den KPD-Vertretern gelungen, das Gericht am Beginn des nächsten Sitzungstags schließlich zu folgender Feststellung des Präsidenten zu veranlassen: „Es verbleibt bei der gestern bekanntgegebenen Entscheidung des Gerichts: Der Marxismus-Leninismus als einheitliche Wissenschaft und seine Bedeutung als Weltanschauung des Kommunismus ist nicht Gegenstand des Verfahrens.“

Gegen den Marxismus als ­Wissenschaft

Damit war die ursprüngliche Absicht der Bundesregierung durchkreuzt worden, allein schon den Bezug zum Marxismus-Leninismus als Verfassungswidrigkeit zu bewerten. Es hätte nun logischerweise der gesamte Schwerpunkt der Prozessführung auf die Handlungsebene, auf bestimmte praktisch-politische, angeblich verfassungsfeindliche Taten, konkrete Planungen und konkrete politische Ziele gelegt werden müssen. Doch es kam anders. Dazu griffen die Vertreter der Bundesregierung richtig tief in die Trickkiste.

Trick 1: Erfindung des „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“: Die Vertreter der Anklage ließen sich ein in den KPD-Dokumenten nirgendwo auftauchendes theoretisches Konstrukt einfallen: den „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“. Außerdem wechselten sie ständig und bewusst immer wieder die Begrifflichkeiten: mal sprachen sie vom Marxismus, mal vom Marxismus-Leninismus oder vom Marxismus-Leninismus-Stalinismus als Grundlagen der Politik der KPD.

Trick 2: Die „Durchbruchstelle“ zwischen Wissenschaft und Praxis. Um die vom Grundgesetz eindeutig geschützte Freiheit der Wissenschaft und der Weltanschauung zu umschiffen, führte der Vertreter der Antragsteller, ein Dr. Kalsbach, ein zweites Konstrukt ein: das der „Durchbruchstelle“ zwischen Theorie und Praxis.

Vom 15. Februar bis zum 21. März 1955 wurde an elf Verhandlungstagen ganz in diesem Sinne nahezu ausschließlich über den Prozessgegenstand „Marxismus-Leninismus“ und nicht etwa über irgendwelche „verfassungsfeindliche“ Taten verhandelt. Es ging dann um viel mehr als nur um das Statut und das „Richtlinienpapier“ der KPD. Es folgte ein viel breiter angelegter Versuch eines Vernichtungskampfs gegen die weltanschaulichen Grundlagen der Kommunisten überhaupt.

Darauf hielt am 18. und 21. März 1955 der KPD-Vertreter Prof. Dr. Kröger ein „Zwischenplädoyer“, in dem er sich ausführlich mit diesen „Beweisen“ auseinandersetzte und sie widerlegte. Er wies nach, dass, wenn es nicht um die Wissenschaft des Marxismus-Leninismus, sondern um die „Durchbruchsstellen zur Praxis“ gehe, es sich um die „Praxis“ handle, die womöglich fehlerhaft aus der Wissenschaft abgeleitet sein könnte, aber nicht um die Wissenschaft selbst. Dann müsste jedoch die möglicherweise falsche oder angeblich „verfassungsfeindliche“ Praxis verhandelt werden – und nicht die Wissenschaft als solche.

0112 13 01 Demonstration der Leipziger Eisen und Stahlwerk - „Du denkst, also sollst du nicht sein“ - Geschichte der Arbeiterbewegung, KPD, Repression - Hintergrund
Arbeiter der Leipziger Eisen- und Stahlwerke protestieren gegen das drohende KPD-Verbot in Westdeutschland (1952) (Foto: Deutsche Fotothek / CC BY-SA 3.0 DE)

Glänzendes Abschlussplädoyer

Das Schlussplädoyer des KPD-Prozessvertreters Dr. Wessig, das zur Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus gehalten wurde, stellt ein Juwel in einer Kette glänzender Vorträge und Verteidigungsreden der Juristen der KPD dar. Sein zentrales Argument und Zitat zur Charakterisierung des Marxismus-Leninismus als Wissenschaft und vor allem die Quelle, die Wessig benutzte, dürfte die heutige Generation von Kommunistinnen und Kommunisten überraschen. Er zitierte nämlich aus einem damals bekannten sowjetischen Lehrbuch eine kluge und den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus-Leninismus betonende Definition:

„Es könnte scheinen, die marxistisch-leninistische Theorie gemeistert zu haben bedeute, einzelne Schlussfolgerungen und Leitsätze aus den Werken von Marx, Engels und Lenin gewissenhaft auswendig zu lernen, um sie zur rechten Zeit zitieren, und sich damit zufrieden geben in der Hoffnung, dass die auswendig gelernten Schlussfolgerungen und Leitsätze für jede Situation, für alle Wechselfälle des Lebens tauglich seien. Aber ein solches Herangehen an die marxistisch-leninistische Theorie ist völlig unrichtig. Man darf die marxistisch-leninistische Theorie nicht als Dogmensammlung, als einen Katechismus, als eine Glaubensformel betrachten, noch die Marxisten selbst als Wortklauber und Schriftgelehrte. Die marxistisch-leninistische Theorie ist die Wissenschaft von der Entwicklung der Gesellschaft, die Wissenschaft von der Arbeiterbewegung, die Wissenschaft vom Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Als Wissenschaft bleibt sie nicht auf der Stelle stehen und kann es auch nicht.“

Die Quelle für dieses aussagekräftige Zitat über den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus und Leninismus war der mittlerweile auch bei Kommunisten weitgehend unbekannte „Kurze Lehrgang zur Geschichte der KPdSU (B)“. Diese Arbeit war von einer Kommission des ZK der KPdSU unter der Leitung von J.  W. Stalin erarbeitet worden. Es ist der antikommunistischen Geschichtsschreibung gelungen, dieses historische Dokument so sehr als „orthodox“ und „stalinistisch“ zu denunzieren, dass selbst viele Kommunisten es heute nur noch als „dogmatisch und einseitig“ ansehen – dabei kennen es die meisten nicht und haben es nie in der Hand gehabt, geschweige denn studiert.

Der Urteilsspruch zum ­Marxismus-Leninismus

Die Verfassungsrichter wussten natürlich um die besondere Schutzwürdigkeit der in Artikel 3, 4 und 5 garantierten Grundrechte, auf die die Vertreter der KPD in ihren zahlreichen Einlassungen hingewiesen hatten. Deshalb sah sich bei der mündlichen Verkündung des Verbotsurteils der vortragende Präsident des Bundesverfassungsgerichts zu folgender persönlichen Einlassung veranlasst: „Die Irrtümer und Missverständnisse, die in der Öffentlichkeit über dieses Verfahren entstanden sind, veranlassen mich, vor Bekanntgabe der wesentlichen Entscheidungsgründe einige Klarstellungen zu treffen: (…) Das Gericht hatte (…) in diesem Verfahren lediglich über die Rechtsfrage zu befinden, ob nach den Zielen und dem Verhalten der KPD der gesetzliche Tatbestand des Art. 21 Abs 2 GG vorliegt. Es hatte zu prüfen, ob diese Ziele mit den Grundvorstellungen unserer Demokratie vereinbar sind. Als Wissenschaftslehre ist die Doktrin des Marxismus-Leninismus nicht Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens.“ Knappe 30 Seiten weiter nahm das schriftliche Urteil noch einmal diese mündliche Erklärung auf – aber dieses Mal mit der Absicht, das Ganze schließlich doch als Argument für die grundsätzliche Verfassungsfeindlichkeit der KPD umzubiegen.

Auf die Einwände der KPD-Prozessvertreter zur besonderen Schutzwürdigkeit der Freiheit der Wissenschaft sowie der Forschung und Lehre gemäß Artikel 5,3 GG hieß es dann nämlich im schriftlichen Urteilstext: „Diese Einwendungen sind gegenstandslos, denn das Bekenntnis zu einer wissenschaftlichen Lehre wird der KPD nicht zum Vorwurf gemacht. Es handelt sich in diesem Verfahren nicht darum, die Theorie des Marxismus-Leninismus als eine ‚einheitliche Wissenschaft‘ für verfassungswidrig zu erklären (…)

Soweit es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse, um Wissenschaft im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG handelt, ist diese Wissenschaft als solche selbstverständlich frei, sie kann vorgetragen, gelehrt, weiterentwickelt, allerdings auch diskutiert und bekämpft werden. Sie ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens, ihr wissenschaftlicher Wahrheitsgehalt kann der Beurteilung eines Gerichts nicht unterliegen.“

Um aber dennoch der Strategie des Verbotsantrags Recht zu geben, der es ja um mehr ging als um das Verbot einer politischen Partei, griff das Bundesverfassungsgericht zu einem weiteren Trick.

Das Gericht folgte nicht nur der „Durchbruchstheorie“ der Vertreter der Bundesregierung, sondern baute darin noch eine theoretisch überhaupt nicht widerlegbare These ein. Sie erfand das Konstrukt von den „eigentlichen Absichten der KPD“, die diese durch unverfängliche Forderungen „verschleiere“. Das war der Trick 3 des Gerichts.

Damit konnte die KPD eigentlich tun und lassen, sagen und schreiben, was sie wollte – alles diente ja angeblich nur der „Verschleierung“. Was kann man dann dagegen juristisch tun? Nichts!

Als weiteren „Beweis“ für die Verfassungswidrigkeit förderten die Verfassungsrichter zu guter Letzt noch ein zusätzliches, besonders bedeutsames Merkmal von Verfassungswidrigkeit der KPD zu Tage. Das Bundesverfassungsgericht entdeckte nämlich die Faktoren „Intensität“ und „Leidenschaft“ beim Studium der Wissenschaft des Marxismus-Leninismus.

Das war Trick 4 des Gerichts: Dass die KPD sich in ihrem System von Bildungsarbeit und in ihrer Propaganda besonders engagiert mit dem „ML“ beschäftigte, belege das besondere Ausmaß von Treue zum Marxismus-Leninismus und erhöhe den Grad ihrer Verfassungswidrigkeit. Die „Propagierung der marxistisch-leninistischen Lehre“, die ja angeblich als Wissenschaft auch nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts vom Grundgesetz geschützt ist, erfolge in der KPD aber mit besonderer „Intensität“. „Entscheidend und in die Augen fallend ist die Intensität dieser Schulung. Es geht der KPD nicht nur darum, den Parteimitgliedern Material zur Urteilsbildung in politischen Tagesfragen an die Hand zu geben. Sie betreibt vielmehr eine politische Schulung, die die Gesamtpersönlichkeit des Mitglieds – über die Belehrung hinaus – zum bewussten Kämpfer für eine politische Weltanschauung erziehen will, die den Anschauungen einer freiheitlichen Demokratie erklärtermaßen feindlich gegenübersteht.“

Also:

  • Oberflächliches Lesen ist „wissenschaftlich“ und erlaubt.
  • Intensives Studieren und Identifikation mit der studierten Wissenschaft bedeutet dagegen Verfassungsfeindlichkeit.

Dagegen muss sich eigentlich eine „Kulturnation“ empören. Wenn das die bis heute gültige Maxime des obersten Gerichts des „Volkes der Dichter und Denker“ ist, kann es dann wundern, dass Esoterik, Aberglaube und Wissenschaftsfeindlichkeit zur offiziell heuchlerisch beklagten „neuen Normalität“ geworden sind?

Der Kampf um die Freiheit zur Verbreitung des wissenschaftlichen Sozialismus, des Marxismus und Leninismus sowie für die Aufhebung des KPD-Verbots und für die freie und ungehinderte Berichterstattung auf den Seiten der „jungen Welt“ ist deshalb eine zutiefst demokratische Kulturaufgabe.

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"„Du denkst, also sollst du nicht sein“", UZ vom 7. Januar 2022



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