Über den Start ins neue Schuljahr

Einfach fallengelassen

Marie-Luise Freudenberg

Welcome back to hell – Das könnte ein Titel von AC/DC sein. In diesem Fall ist es aber eine sehr treffende Beschreibung für den Start vieler Kinder und Jugendlicher in das neue Schuljahr. Trotz steigender Corona-Infektionszahlen hat sich in den meisten Schulen nichts getan. Die Klassenstärken sind zu groß, die Lehrerinnen und Lehrer zu wenig und das Anschaffen von Luftfiltern war zu teuer.

Höllischen Stress und Leistungsdruck werden Schülerinnen und Schüler jetzt noch mehr haben als in den vergangenen Jahren. Sie müssen weiterhin Klausuren, Tests, Arbeiten und Prüfungen schreiben und werden benotet, als sei nichts geschehen. Die Noten bestimmen weiterhin den Schulzweig und damit den Abschluss und zukünftige (Aus-)Bildungschancen. All das, obwohl wir in den letzten eineinhalb Jahren coronabedingt immer wieder Unterrichtsentfall hatten, monatelang ohne richtige Lernbetreuung und Hilfe isoliert im Home-Schooling saßen und somit riesige Lücken haben, was den Stoff für Prüfungen und den weiteren Unterricht angeht. All das wird ignoriert. Wer durch den Lockdown noch weiter nach hinten geworfen wurde, wird nicht aufgefangen.

Corona hat allerdings nur das, was vorher schon in unserem Schulsystem normal war, auf die Spitze getrieben: absolute Chancenungleichheit bei der Bildung und späteren Ausbildungswahl.

Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten haben es schwerer, auf ein Gymnasium zu kommen, als Kinder, deren Eltern selbst Abitur gemacht und studiert haben. Ob Eltern bei den Hausaufgaben und beim Lernen für Klausuren helfen können oder nicht, ob sie in der Lage sind, Nachhilfeunterricht zu bezahlen oder nicht, ob sie Bücher und vernünftiges, auch technisches, Material bezahlen können oder nicht – all das spielt beim Mitkommen in der Schule eine große Rolle. Mit dem Home-Schooling und dem wegfallenden Schulbesuch wurde das Lernpotenzial komplett auf die Situation zu Hause reduziert. Das verschärfte die sozialen Unterschiede erheblich.

Das alles könnte anders aussehen. Wäre ausreichend Geld in die Bildung gesteckt worden, hätte man mehr Lehrerinnen und Lehrer einstellen und kleinere Klassen bilden können. Man hätte Hygienebedingungen in (Schul-)Gebäuden so organisieren können, dass der Corona-Infektionsschutz für alle Schüler und Lehrkräfte gewährleistet worden wäre. Keine Schülerin und kein Schüler hätte isoliert ins Home-Schooling gemusst.

Dass an guter Bildung für alle gespart wird, hat System. Das Geld wird im Kapitalismus anderswo „dringend gebraucht“: Bei der Lufthansa zum Beispiel. Anstatt jungen Menschen gute Bildung zu ermöglichen, werden Unternehmen staatlich unterstützt. Denn erstens sind diese viel profitabler als umfassend gebildete Jugendliche, zweitens könnte ein hohes Maß an Bildung, einhergehend mit kritischem Hinterfragen, den bestehenden Verhältnissen gefährlich werden. Unser Bildungssystem ist also auf eine möglichst günstige Schmalspurausbildung ausgelegt. Das Nötigste eben, um uns auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Da ist es kein Wunder, dass die Schulen auch in diesem Sommer nicht flächendeckend mit Luftfiltern ausgestattet worden sind, obwohl Schülerinnen und Schüler kaum geimpft sind. Da helfen nur Schülerproteste, die den enormen Leistungsdruck und die aktuelle Perspektivlosigkeit der Jugend skandalisieren. Denn sonst wird der Schulalltag für viele die nächsten Jahre die Hölle.

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"Einfach fallengelassen", UZ vom 20. August 2021



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