Die Monopolbourgeoisie braucht die geschlossene Heimatfront

Dem Gegner nicht auf den Leim gehen

Jürgen Lloyd

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Referats, das Jürgen Lloyd Mitte Februar beim SDAJ-Bundesvorstand gehalten hat. Der Autor bezieht sich auf einen Report des Stabes der Münchner Sicherheitskonferenz von 2020, der verdeutlicht, wie die Pandemie nicht nur zur Formierung der Gesellschaft genutzt wird, sondern gleichzeitig der Weltmachtanspruch des deutschen Monopolkapitals durchsetzbar gemacht werden soll. Die Ausführungen zu den Formierungsbemühungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie können helfen, die richtige Orientierung zu finden gegenüber der derzeit auf allen Kanälen betriebenen Herstellung der geschlossenen Heimatfront gegen China und Russland.

Gesellschaftliche Verhältnisse sind – jedenfalls solange die Menschen sie nicht mit vollem Bewusstsein nach dem Maßstab ihres Interesses selbst gestalten – meist undurchsichtig. Die Undurchsichtigkeit ist Folge davon, dass dieses Gesellschaftssystem mit inneren Widersprüchen behaftet ist. Diese Widersprüchlichkeiten behindern zwar die Einsicht in das Wesen gesellschaftlicher Verhältnisse, sie treten jedoch selbst an die Oberfläche und werden von den Menschen wahrgenommen.

So hat die Corona-Pandemie offengelegt, dass ein Gesundheitssystem den gesellschaftlichen Interessen nicht gerecht wird, wenn es dem kapitalistischen Profitinteresse überantwortet ist. Weiter wurde deutlich, dass eine global verlaufende Pandemie nicht global bekämpft werden kann, wenn Länder sich gleichzeitig dem Ziel verschreiben, im gegenseitigen Konkurrenzkampf „gestärkt aus der Krise hervorzugehen“.

Nicht zuletzt hat die Pandemie gezeigt, wie schwierig es für linke, gar revolutionäre Kräfte ist, Orientierung zu geben, wenn sie nicht gewöhnt sind, ihre Politikentwicklung auf fester Basis strategischer Überlegungen zu begründen. Es nutzt nichts, darüber zu jammern und es wäre verwerflich, diese Schwäche als Entschuldigung zu nutzen, um sich aus dem gemeinsamen Kampf zu verabschieden. Es hilft nur, beharrlich an der Überwindung dieser Schwäche zu arbeiten und sich der gemeinsamen Grundlagen dadurch zu vergewissern, indem wir sie in Anwendung bringen.

Im Oktober 2020 hat der Stab der Münchner Sicherheitskonferenz einen Report zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik herausgegeben. Darin heißt es: „Handlungsfähigkeit nach außen erfordert Standfestigkeit im Inneren: Die Covid-19-Pandemie hat in dramatischer Weise deutlich gemacht, wie wichtig das Thema Resilienz ist.“ Die Autoren haben damit das Bedingungsverhältnis zum Ausdruck gebracht, welches Voraussetzung monopolkapitalistischer Herrschaft ist und diese kennzeichnet: Der Imperialismus braucht für seine Herrschaftsausübung im Inneren eine stabile – eine „standfeste“ – Basis. Das ist es, was mit dem Bild der „geschlossenen Heimatfront“ beschrieben wird. All die Schritte und Maßnahmen – von Repression bis zur ideologischen Bewusstseinsmanipulation – haben das Ziel, jene „Standfestigkeit im Inneren“ herzustellen. Reinhard Opitz erfasste dies mit dem Begriff der monopolkapitalistischen Formierung.

Es ist der Druck der zwischenimperialistischen Konkurrenz, dem die Akteure Ausdruck verleihen, wenn sie vom Bemühen reden, „gestärkt aus der Krise hervorzugehen“. Es ist das Streben nach Vorteilen für die eigene Machtentfaltung, das die Monopole zwingt, im Inneren die Bevölkerung so zu formieren, dass alle gesellschaftlichen Beziehungen und das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder sich reibungslos den Zwecksetzungen des Monopolkapitals unterordnen.

Wenn die Bourgeoisie die Pandemie nutzen will, dann heißt das, sie muss möglichst geringere Störungen im Produktionsablauf erleiden als die Konkurrenz. Sie muss in der Lage sein, Kosten und Lasten so zu verschieben, dass die maßgeblichen Monopole geschont werden. Hingeschoben werden sollen sie zu konkurrierenden Imperialisten oder zur Peripherie und im Innern zu nichtmonopolistischen Schichten, insbesondere zur Arbeiterklasse. Auch die Platzierung eines neuen Monopolunternehmens gehört dazu: Das Unternehmen BioNTech hatte im Jahr 2019 einen Jahresumsatz von etwa 100 Millionen Euro. Allein im dritten Quartal 2021 erzielte der Konzern einen Nettogewinn von 3,2 Milliarden Euro, der sich überwiegend aus von der Arbeiterklasse bezahlten Steuern und Versicherungsbeiträgen speist. Der zusammen mit Pfizer vermarktete Impfstoff hat in der EU einen Marktanteil von 80 Prozent, in den USA von 74 Prozent. Der weitere Ausbau dieser Vorrangstellung in einem besonders zukunftsträchtigen Hightech-Bereich ist absehbar. Der gemeinsame Nenner aller Maßnahmen der imperialistischen Bourgeoisie in ihrem Bemühen lautet, die Kapitalmacht der heimischen Monopole zu stärken. Und für dieses Ziel erwartet sie von der Bevölkerung die engagierte Mitarbeit und nennt diese geschlossene Heimatfront dann in perverser Verlogenheit „Solidarität“.

Herrschaftshindernis

Es hilft, den Klassencharakter politischer Herrschaft im staatsmonopolistischen Kapitalismus so zu beleuchten. Aus Sicht der Monopolbourgeoisie bedeutet eine Auflehnung gegen Corona-Maßnahmen ein Hindernis für die reibungslose Einordnung der Bevölkerung hinter ihre Strategie. Entlang dieser Herrschaftsperspektive ist egal, aus welchen Beweggründen die Auflehnung motiviert ist – es kommt nur auf den Effekt an, Hindernis zu sein. Das erklärt, warum sich im Herrschaftsapparat dieses staatsmonopolistischen Systems nach einer eher schwankenden Anfangsphase die Tendenz durchgesetzt hat, die Proteste gegen staatliche Corona-Maßnahmen zu verdammen und zu unterdrücken.

Reaktionäre Kräfte denken diese Entwicklung weiter und folgern eine „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Als Begründung dafür, dass dies ab sofort „nachrichtendienstlich bearbeitet werden“ muss, erklärt der Geheimdienst, der Protest sei „geeignet und zielt darauf ab, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern“.

Hier zeigen sich zwei Aspekte der Formierungsstrategie: Mit Verweis auf die Pandemiebekämpfung wird der reaktionäre Staatsumbau vorangetrieben; das Versammlungsrecht und andere Rechte werden eingeschränkt; ein Militär wird zum Koordinator der Pandemiebekämpfung ernannt. Leider können die Herrschenden all dies durchsetzen: Die demokratischen Kräfte sind desorganisiert und eingelullt und dadurch zu schwach zur Gegenwehr. Zweitens zeigt das Zitat ein weiter gewachsenes Ausmaß an bereits verankerter und vom staatlichen Geheimdienst nochmals beförderter Formierungsideologie: Wenn Misstrauen in staatliche Institutionen und seine Repräsentanten zum Grund für Repressionsmaßnahmen erklärt wird, dann ist das nicht mehr vom liberalen Selbstverständnis der bürgerlichen Demokratie gedeckt. Denn dieses Selbstverständnis besteht darin, dass das Volk der Souverän ist, der allein Legitimität an den Staat verleihen kann und nicht andersherum der Staat sich selbst ermächtigen kann, eine Autorität zu sein, dem das Volk Gefolgschaft schuldet.

Formierung und Corona-Proteste

Das Klasseninteresse der Monopolbourgeoisie bringt das Bemühen hervor, alle gesellschaftlichen Beziehungen ihren Zwecken unterzuordnen. Wir müssen uns dem entgegenstellen und dürfen nicht zulassen, zu Kollaborateuren der monopolkapitalistischen Formierung zu werden. Das würden wir, wenn wir die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zum Objekt erklären, welches wir bekämpfen sollten. Dadurch würden wir beitragen zu einer Spaltung entlang falscher Frontlinien, wonach der Feind nicht mehr das Monopolkapital und seine Bundesregierung, sondern Corona-Leugner und Ungeimpfte sind. Wir würden dann unserer Aufgabe zuwiderhandeln, Klassenbewusstsein zu schaffen.

Auch wenn das Formierungsinteresse von zentraler Bedeutung ist für den politischen Herrschaftsbedarf der Bourgeoisie in Bezug auf die Pandemie, bedeutet das für uns nicht, anderen Aspekten keine Beachtung zu zollen. Wir orientieren unsere politische Praxis daran, dass wir mit ihr die Frontlinien im Klassenkampf erkennbar und erfahrbar machen. Es wäre daher ein Fehler, uns in Frontstellung gegen die Proteste zu stellen und dadurch die wirkliche Frontlinie im Klassenkampf zu vernebeln. Ebenso wäre es unzureichend, die Augen davor zu verschließen, dass bei den Protesten Irrationalismus vertreten ist und in regional unterschiedlichem Ausmaß Faschisten versuchen, das Thema für eine ideologische Mobilisierung zu nutzen. Der Grundsatz, in unserer Praxis die Frontlinien im Klassenkampf erkennbar und erfahrbar zu machen, lässt sich nicht damit vereinbaren, solchen Irrationalismus oder gar faschistische Demagogie als adäquaten Ausdruck der wirklichen Frontlinien erscheinen zu lassen.

Formierung und Irrationalismus

Nun brauchen wir uns über Irrationalismus in dieser Gesellschaft nicht zu wundern. Die inneren Widersprüche des Imperialismus sind eine nie versiegende Quelle des Irrationalismus. Ebenso wie der Tendenz zum Krieg können wir uns dessen daher nur entledigen, wenn wir den Imperialismus loswerden. Dabei ist das Gegenteil von Irrationalismus auch nicht „die Wissenschaft“. Wissenschaft steht immer in einem Bezug zu gesellschaftlicher Praxis und diese Praxis dient in einer Klassengesellschaft entweder dem Interesse der einen oder der anderen Klasse. Deswegen ist der Glaube an eine neutrale, interesse-
lose Wissenschaft selbst Ausdruck von spätkapitalistischem Irrationalismus. Das Gegenteil von Irrationalismus ist nicht diese angeblich neutrale Wissenschaft, wie es oft angenommen wird, wenn Querdenkern Irrationalismus vorgeworfen wird, sondern das Gegenteil von Irrationalismus ist das Wissen um die Bedingungen und Möglichkeiten, mit denen wir – in zutreffendem Bewusstsein der eigenen Interessen – die Welt so ändern können, dass sie den Bedürfnissen der Menschen zuträglich wird. Bürgerliche Wissenschaft ist dagegen oft der Erfüllungsgehilfe entgegengesetzter Bestrebungen.

Die Maßlosigkeit monopolkapitalistischer Machtausübung und ihrer Herrschaftspraxis ist stets eine Ursache für Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Sobald diese Unzufriedenheit Proteste hervorbringt, die sich nicht mehr herrschaftskonform reintegrieren lassen, muss dies bei der Monopolbourgeoisie das Interesse erwecken, den Protest davon abzuhalten, sich einem effektiven Kampf gegen die Monopolherrschaft zuzuwenden. Hierzu dient faschistische Demagogie. Bewusstsein über die Linien im Klassenkampf hervorzubringen, bedeutet deutlich zu machen, dass solche Demagogie und ihre Propagandisten unserem Interesse entgegenstehen.

Aufgaben für Kommunisten

Grundsätzliche Erwägungen sollen Orientierung geben. Die konkrete Politikentwicklung vor Ort muss die Bedingungen und Möglichkeiten berücksichtigen, die das konkrete Umfeld ausmachen, in dem wir tätig sein wollen.

Unsere Aufgabe, zutreffendes Bewusstsein zu verbreiten über die eigenen Interessen und über die Möglichkeiten und Wege, diese durchzusetzen, bestimmt auch unsere Bündnisarbeit. Vorwürfe an Impfverweigerer zu richten, sie seien egoistisch und unsolidarisch gegenüber ihren Mitmenschen oder der Gesellschaft, würden einem bürgerlich-individualistischen Freiheitsbegriff anhängen, erweisen sich als schädlich. Selbst wo solche Beschreibung des subjektiven Bewusstseins als bürgerlich-individualistisch zutrifft, wäre das ein Fehler. Uns stellt sich stattdessen die Aufgabe, dem von den Individuen empfundenen Unbehagen eine bessere – weil die richtigen Fronten aufzeigende – Erklärung anzubieten. Bürgerliche Freiheitsrechte dienen der FDP lediglich zur ideologischen Ausschmückung ihrer auf Profitmacherei ausgerichteten Politik. Für uns sind bürgerliche Freiheitsrechte eine Errungenschaft, deren demokratischen Gehalt wir verteidigen – und zwar verteidigen gegen das Streben der Monopolbourgeoisie nach durchgreifender Unterordnung aller unter ihre Zwecksetzungen. Die Herrschaftslogik der Monopolbourgeoisie drängt, sobald diese das für geboten ansieht, auf die Negierung demokratischer Rechte. Der gemeinsame Kampf zur Verteidigung demokratischer Rechte gehört dann zu unseren Aufgaben und ist Inhalt unserer antimonopolistischen Bündnispolitik. Unter diesen Bedingungen das Beharren auf bürgerlichen Freiheitsrechten propagandistisch als unsolidarisch zu kritisieren, heißt einer ignoranten Missinterpretation unseres Begriffs von Solidarität auf den Leim zu gehen – ignorant deswegen, weil es die realen Klassenverhältnisse in dieser Gesellschaft ignoriert. Wir verbinden mit Solidarität etwas, was im gemeinsamen Kampf für gemeinsame Interessen entsteht. Die Forderung, der Einzelne müsse sich dem Interesse „der Gesellschaft“ unterordnen, hat in diesem Staat – wo nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern die Monopole die Macht haben, das Interesse „der Gesellschaft“ zu definieren – nichts mit Solidarität zu tun, sondern mit Volksgemeinschaft. Die Frontlinie verläuft nicht zwischen den „egoistischen“ Impfverweigerern auf der einen Seite und einem in Staat und Gesellschaft volksgemeinschaftlich zusammengefundenen „Wir“ auf der anderen Seite. Sie verläuft zwischen der Arbeiterklasse und der riesigen Mehrheit der Bevölkerung auf der einen Seite und den Monopolen und deren Staat auf der anderen Seite – einem Staat, der eben nicht so eingerichtet ist, dass er Vertrauen in seine Bemühungen um unsere Gesundheit verdient.

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"Dem Gegner nicht auf den Leim gehen", UZ vom 1. April 2022



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