Zur Politik des Putinschen Russland

Ende der Demütigungen

Von Willi Gerns

Teil I: „Ökonomische und politische Machtverhältnisse im heutigen Russland“ erschien in UZ 42 (20. Oktober 2017). Nachtrag: In Teil I wird die Kritik Kaschins an der Aufhebung praktisch aller Beschränkungen für die Überführung von Valuta und Direktinvestitionen aus Russland in den Westen erwähnt. Aufgrund von Kürzungen fehlt die Angabe, um wen es sich bei Kaschin handelt. Wladimir Iwanowitsch Kaschin ist stellvertr. Vorsitzender des Zentralkomitees der KPRF und Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Was die Politik Russlands betrifft, so ist es notwendig, zwischen Innen- und Außenpolitik sowie in der Außenpolitik zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden.

Die Innenpolitik wird von den Profit- und Machtinteressen der in Teil I charakterisierten herrschenden Klassenkräfte im heutigen Russland bestimmt. Sie ist darauf gerichtet, einerseits günstige Bedingungen für die möglichst effektive und profitable Ausbeutung der russischen Arbeiterklasse zu schaffen, zugleich aber andererseits auch durch soziale Zugeständnisse wie durch eine Politik der harten Hand die Stabilität des Regimes zu sichern.

Dabei dient sicher auch die gelegentlich positive Bezugnahme auf das Erbe der Sowjetzeit der Bindung jener noch immer großen Teile des russischen Volkes an das Putin-Regime, die stolz auf die Supermacht Sowjetunion und ihren entscheidenden Anteil am Sieg über das faschistische Deutschland als dem Höhepunkt der russischen Geschichte sind. Dieser Stolz mag in einem gewissen Maße selbst für Teile der herrschenden Klasse gelten, besonders für diejenigen, die wie Putin von den „Silowiki“, den Uniformträgern kommen. Allerdings gibt es keinen Grund dafür, daraus auf deren vermeintliche Sympathien für den Sozialismus zu schließen.

Die Rückbesinnung auf die Geschichte – die Sowjetunion als „Supermacht“ eingeschlossen – dient vielmehr als ideologische Begleitmusik für das Bestreben, die Zeit der Schwäche und Demütigung Russlands durch die imperialistischen Hauptmächte nach dem Ende der UdSSR endgültig zu beenden und dem heutigen kapitalistischen Russland erneut einen geachteten Platz in der Welt zu verschaffen. Das ist der Leitgedanke, den die russische Führung seit dem Machtantritt Putins an der Wende des neuen Jahrhunderts im Maße der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Regeneration des Landes mit wachsendem Nachdruck verfolgt. Seinen Ausdruck findet dies in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik.

In der Außenpolitik betrifft die erste Ebene – wie es in Russland heißt – das „nahe Ausland“. Damit gemeint sind die Beziehungen zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die baltischen Staaten ausgenommen. Hier verfolgt die russische Führung eine langfristig angelegte Politik der Reintegration unter russischer Führung. Ausgangspunkt dafür sind die Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan und ihr einheitlicher Wirtschaftsraum, die zu einer Eurasischen Union (EAWU) weitergeführt werden sollen.

Im Umgang Russlands mit seinen schwächeren Partnern auf der Ebene des „nahen Auslands“ hat es leider immer wieder gewisse Praktiken gegeben, die an imperialistische Methoden erinnern. Das betrifft z. B. den wiederholten wirtschaftlichen Druck gegenüber Belarus, um dessen Führung dazu zu zwingen, belarussisches Staatseigentum an den russischen Gasprom-Konzern abzugeben und den Weg für das Eindringen russischer Oligarchen in die belarussische Wirtschaft zu öffnen. Solche Praktiken begünstigen Skepsis der Partner gegenüber den Integrationsabsichten Moskaus und sind auch ein Grund für Verzögerungen im Integrationsprozess. USA, NATO und EU kommt dies durchaus gelegen. Sie wollen eine Reintegration ehemaliger Sowjetrepubliken unter Führung Russlands um jeden Preis verhindern.

Die zweite Ebene der russischen Außenpolitik betrifft die Weltpolitik. Im Unterschied zu den USA mit ihrem NATO-Gefolge sind auf diesem Feld zumindest heute und in der nächsten Zukunft keine russischen Ambitionen auf die Weltherrschaft zu erwarten. Dafür wären auch die Kräfteverhältnisse nicht gegeben. Hier strebt das Russland Putins danach, dem Weltherrschaftsanspruch des US-Imperialismus und seiner Satelliten eine multipolare Weltordnung entgegenzusetzen. In diesem Ziel gibt es viel Übereinstimmung mit den Interessen Chinas und der anderen BRICS-Staaten sowie weiterer Länder.

Nachdem Russland unter Jelzin sich dem Herrschaftsanspruch der USA und ihres Gefolges devot unterordnete und auch Putin in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft nur zögerlich und unentschlossen eigene russische Interessen deutlich gemacht hatte, begann sich dies seit etwa Mitte der 2000er-Dekade zunehmend zu ändern.

So stellte der stellvertretende Direktor des Moskauer Carnegie-Zen­trums, Dmitri Trenin, bereits 2006 fest: „In der Tat macht Russland einen Prozess durch, der als außenpolitische Revolution bezeichnet werden kann. Es hat tatsächlich angefangen, sich als moderne Großmacht zu erneuern. Der äußerste Planet des westlichen Sonnensystems hat seine Umlaufbahn verlassen, um eine neue und unabhängige Flugbahn einzuschlagen. Das hat weitreichende Folgen.“ Und weiter: „Die große Veränderung des Jahres 2005 ist, dass in diesem Jahr die russische Außenpolitik von einer Position der Schwäche zu einer der Stärke wechselte. … Postsowjetische Erniedrigung ist ein Ding der Vergangenheit und den russischen Führern gefällt das Spiel mit den harten Bandagen.“ (Dmitri Trenin; Der Westen und Russland. Das verlorene Paradigma. In: Russlandanalysen 88/06)

Wenn die führenden Politiker im Westen diese Veränderungen zur Kenntnis genommen hätten, wären sie wahrscheinlich ein Jahr später, im Februar 2007, von der Rede Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz weniger hart auf dem falschen Fuß erwischt worden. So platzte die Abrechnung des russischen Staatsoberhaupts mit dem Weltherrschaftsanspruch der USA wie eine Bombe ins Auditorium.

An einige Passagen daraus soll erinnert werden: „Ich glaube, dass das monopolare Modell für die heutige Welt nicht nur unannehmbar, sondern überhaupt unmöglich ist. Und nicht nur, weil bei der Führung eines einzelnen in der heutigen – eben in der heutigen – Welt weder die militärpolitischen noch die wirtschaftlichen Ressourcen ausreichen würden. (…) Dabei ist alles, was sich heute in der Welt abspielt – und wir haben gerade erst begonnen darüber zu diskutieren – eine Folge der Versuche, gerade diese Konzeption, die Konzeption der monopolaren Welt, in die internationalen Angelegenheiten hineinzupflanzen.

Und was ist das Resultat? Die einseitigen und des Öfteren illegitimen Handlungen haben kein einziges Problem gelöst. Mehr noch: Sie haben zu neuen menschlichen Tragödien und zu neuen Spannungsherden geführt. Urteilen Sie selbst: Die Kriege sowie die lokalen und regionalen Konflikte sind nicht weniger geworden. … Dabei sterben in diesen Konflikten nicht weniger, sondern sogar mehr Menschen als früher – wesentlich mehr! Heute beobachten wir eine durch fast nichts gezügelte und übertriebene Anwendung von militärischer Gewalt in den internationalen Angelegenheiten. Einer Gewalt, die die Welt in die Tiefen einander ablösender Konflikte stößt.“

Weiter führte der russische Präsident aus: „Wir beobachten eine immer stärkere Vernachlässigung der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch: Einzelne Normen, eigentlich beinahe schon das gesamte Rechtssystem eines einzelnen Staates, in erster Linie natürlich der Vereinigten Staaten, haben die nationalen Grenzen in allen Bereichen überschritten und werden sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik und in der humanitären Sphäre anderen Staaten aufgedrängt. Wem könnte das denn gefallen?

In den internationalen Fragen ist immer häufiger das Bestreben zu sehen, diese oder jene Fragen ausgehend von der sogenannten politischen Zweckmäßigkeit zu lösen, der die aktuelle politische Zweckmäßigkeit zu Grunde liegt.

Das ist natürlich äußerst gefährlich. Und das führt dazu, dass sich niemand mehr in Sicherheit fühlt. … Die Dominanz des Gewaltfaktors nährt zwangsläufig das Streben einiger Länder nach dem Besitz von Massenvernichtungswaffen. Mehr noch: Es sind prinzipiell neue Bedrohungen entstanden, die zwar auch früher bekannt waren, heute aber einen globalen Charakter annehmen, wie zum Beispiel der Terrorismus. …“

Der Weltherrschaftspolitik des US-Imperialismus stellte Putin in München eine auf der UN-Charta und den Prinzipien des Völkerrechts basierende multipolare Weltordnung entgegen.

Nicht weniger deutlich war seine Rede am 18. März 2014 zur Wiedervereinigung der Krim mit Russland. Darin heißt es u. a.: „Unsere westlichen Partner, vor allem die Vereinigten Staaten, ziehen es vor, in ihrer praktischen Politik nicht vom Völkerrecht, sondern vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Sie glauben an ihre Auserwähltheit und Exklusivität, daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und daran, dass immer nur sie allein Recht haben können. Sie handeln so, wie es ihnen einfällt: Mal hier, mal da wenden sie Gewalt gegen souveräne Staaten an, bilden Koalitionen nach dem Prinzip „wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“ Diese Feststellungen belegte Putin mit zahlreichen Beispielen, vom Überfall auf Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen bis zur Organisierung „bunter Revolutionen“, darunter in der Ukraine 2004 und jetzt mit dem Putsch 2014.

Weiter heißt es in der Rede: „Wir schlagen ständig Kooperation in Schlüsselfragen vor, wir wollen das gegenseitige Vertrauen fördern, wir wünschen, dass unsere Beziehungen auf Augenhöhe stattfinden, dass sie offen und ehrlich seien. Aber wir sehen keinerlei Entgegenkommen. Im Gegenteil, wir wurden Mal um Mal betrogen, es wurden Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, man stellte uns vor vollendete Tatsachen. So war es mit der NATO-Osterweiterung, mit der Installation von militärischer In­frastruktur an unseren Grenzen. So war es auch mit der Entfaltung der Systeme der Raketenabwehr. (…)“

Der Redner schlussfolgerte: „Kurz, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass die sprichwörtliche Eindämmungspolitik gegen Russland, die sowohl im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert aktuell war, auch heute noch fortgeführt wird. Man versucht ständig, uns in irgendeine Ecke zu drängen, und zwar dafür, dass wir eine unabhängige Position einnehmen, dafür, dass wir diese verteidigen und dafür, dass wir die Dinge beim Namen nennen und nicht heucheln. Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten, handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell.“

Putin forderte „die Hysterie abzustellen, die Rhetorik aus Zeiten des kalten Krieges zu beenden und eine offensichtliche Sache anzuerkennen: Russland ist ein selbstständiger, aktiver Faktor der internationalen Gemeinschaft, es hat, wie andere Länder auch, nationale Interessen, die man berücksichtigen und achten muss.“

Die Ablehnung des Weltherrschaftsanspruchs der USA und ihres Gefolges durch Russland und andere Staaten, das Streben nach einer multipolaren Weltordnung liegt objektiv im Interesse von Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt, weil dies den Weltpolizisten USA, NATO und EU Grenzen setzt. Das sollte Anlass sein, Russland und seine westlichen Konkurrenten trotz im Wesentlichen gleicher sozialökonomischer Grundlagen nicht über einen Kamm zu scheren. Dazu veranlassen sollten uns auch die historischen Erfahrungen mit unterschiedlichen Systemen und Formen kapitalistischer und imperialistischer Politik sowie die Anwendung des dem historischen Materialismus immanenten Grundsatzes der konkreten Analyse der konkreten historischen Situation.

Davon ausgehend gelangte die Sowjetunion vor und während des zweiten Weltkriegs trotz tiefer Widersprüche mit den imperialistischen Westmächten zu dem Schluss, dass in der damaligen konkreten geschichtlichen Situation das faschistische Deutschland die Hauptgefahr für die UdSSR und die Menschheit darstellte. Diese Erkenntnis wurde zur Grundlage für ihr Ringen um kollektive Sicherheit und machte im Ergebnis trotz vieler Schwierigkeiten die Anti-Hitler-Koalition als bedeutenden Faktor für den Sieg über Nazi-Deutschland möglich.

Die konkrete Analyse der heutigen konkreten historischen Situation in der Welt macht es heute meiner Überzeugung nach notwendig – in klarer Erkenntnis, dass das kapitalistische Russland, das ich in seinen Grundzügen in Teil I zu charakterisieren versucht habe, für Marxisten absolut kein alternatives Gesellschaftsmodell sein kann – auf dem Gebiet der internationalen Politik zwischen Russland und den imperialistischen Hauptmächten zu differenzieren. Die Hauptgefahr für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt geht heute von der Weltherrschaftspolitik des US-Imperialismus und seines NATO-Gefolges aus. Das gilt es zu erkennen und dagegen den Hauptstoß unseres Kampfes zu richten.

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"Ende der Demütigungen", UZ vom 27. Oktober 2017



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