Gewerkschaften und Friedensbewegung – ein „schwieriges Thema“

Frieden oder Burgfrieden?

Norbert Heckl

Anfang Oktober erscheint die neue Ausgabe der „Marxistischen Blätter“. Den Schwerpunkt des Heftes widmet die Redaktion dem Thema „Nein zur Kriegstüchtigkeit“. „Heute ist die Atomkriegsgefahr größer denn je. Vor allem für unser Land, das in allen gesellschaftlichen Bereichen ‚kriegstüchtig‘ gemacht werden soll. Schon jetzt ist die BRD ein ‚Pulverfass‘, voller US-Atomwaffen und US-Stützpunkten. Ab 2026 sollen neue, erstschlagsfähige US-Mittelstreckenraketen stationiert werden“, heißt es im Editorial. Neun Autorinnen und Autoren schreiben zum Thema. Sie beschäftigen sich mit der militaristischen Zurichtung der Gesellschaft, der Kriegspropaganda und dem Aufbau einer Kriegswirtschaft. Besonderen Wert legen viele Autorinnen und Autoren auf den Zusammenhang von Militarisierung und Aufrüstung sowie Sozialabbau und Verfall der Daseinsvorsorge.

Wir drucken mit freundlicher Genehmigung des Verlags den Artikel von Norbert Heckl ab. Er beschäftigt sich als Stellvertretender ver.di-Bezirksvorsitzender Stuttgart mit der Rolle der Gewerkschaften im Friedenskampf.

Die MB können beim neue-impulse-verlag.de bezogen werden.

Die Friedensfrage ist „ein hochemotionales, aber auch schwieriges Thema“, so die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi bei einer Videokonferenz im Februar des Jahres. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurde es noch sehr viel schwieriger, als es in den letzten Jahren schon war. Während im Arbeitsausschuss der Initiative „abrüsten statt aufrüsten“ noch 2021 offizielle Vertreter des DGB, von ver.di und der IG Metall mitarbeiteten, gemeinsam mit Vertretern von Greenpeace, Welthungerhilfe, BUND und Repräsentanten der Friedensbewegung das 2-Prozent-Ziel der NATO verurteilten und sich für ein „System gemeinsamer Sicherheit“ einsetzten, war es damit nach Kriegsbeginn vorbei. Die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ beeinflusste auch sehr viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, nicht nur in den Vorständen: ihre Haltung zu NATO und Bundeswehr veränderte sich. Wurde vor Jahren auf ver.di-Kongressen noch über die ablehnende Haltung der Gewerkschaften gegenüber Remilitarisierung und Gründung der Bundeswehr in den 1950er Jahren diskutiert, so spielt das in den heutigen Diskussionen keine Rolle mehr. Stattdessen wird darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr eine Organisation ist, „die sich als Arbeitgeberin umfassend an Tarifverträge hält, die Regeln der Mitbestimmung einhält und bei der alle Beschäftigten einschließlich der Soldat:innen so ausgestattet sind, dass sie ihre Aufgaben erfüllen können.“ Diese Aufgaben werden in der Landes- und Bündnisverteidigung (im Südchinesischen Meer?) gesehen.

Kriegsertüchtigung = ­Daseinsvorsorge?

Im Leitantrag zum Friedensthema des ver.di-Bundeskongresses im September 2023 wird zwar an der Ablehnung des 2-Prozent-Rüstungsanteils am BIP und des 100 Milliarden-„Sondervermögens“ festgehalten (was durchaus ein Erfolg der friedensbewegten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ist), aber gleichzeitig festgestellt, dass es zur „Behebung der bestehenden Mängel“ (in der Ausrüstung der Bundeswehr) „finanzieller Mittel“ bedarf. Die Verteidigung wird im Leitantrag als eine „originär staatliche Aufgabe der Daseinsvorsorge“ (!) definiert: damit wird die Bundeswehr solchen Bereichen wie Bildung, Erziehung, Versorgung mit Wohnraum, Wasser und Strom gleichgestellt. Positiv hervorzuheben ist, dass es zum Leitantrag eine sechsstündige Diskussion mit über einhundert Redebeiträgen gab.

Eher kurz war die Debatte auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall einen Monat später. Delegierte verlangten, dass ihre Organisation „weiterhin eine ganz klare gesellschaftliche Stimme der Vernunft, der Diplomatie, des Friedens und der Konversion bleibt“ und die „friedenspolitischen Grundsätze der IGM nicht in Frage gestellt werden“. Ein klares Nein gegen das 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm und gegen Sozialabbau fehle, monierte ein anderer Delegierter. In den schließlich angenommenen Leitantrag des Vorstands wurden friedensfreundlichere Formulierungen aufgenommen: „Waffenexporte sind restriktiv und transparent zu handhaben. Eine Fixierung auf Waffenlieferungen verlängert diesen (Ukraine-)Krieg und führt auf beiden Seiten zu tausenden Toten und Verletzten. Daher ist der Schwerpunkt auf diplomatische Lösungen zu legen, um zunächst einen schnellen Waffenstillstand zu vereinbaren. Eine einseitige Fixierung der Debatte auf Waffenlieferungen und ein Denken in den Kategorien ‚Sieg‘ oder ‚Niederlage‘ ist der falsche Weg. (…) Außerdem setzen wir uns gemeinsam für Rüstungskonversion ein.“

Gemeinsam mit der ­Rüstungsindustrie

Gerade der letzte Satz wurde allerdings nur wenig später konterkariert durch das gemeinsame Positionspapier von IG Metall, dem „Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“ (BDSV) und dem SPD-Wirtschaftsforum. In ihm wird unter anderem dafür geworben, die „Verteidigungsfähigkeiten“ zu Land, in der Luft und auf See weiterzuentwickeln. Während dieser Rüstungspakt vom neugewählten 2. Vorsitzenden Jürgen Kerner unterschrieben ist, erklärt Hans-Jürgen Urban vom Geschäftsführenden Vorstand in der „Zeitung gegen den Krieg“: „Mit einem neuen konventionellen und atomaren Rüstungswettlauf, der für Kriegsgerät verschlingt, was für einen gerechten Frieden gebraucht wird, ist der Friede im 21. Jahrhundert nicht zu sichern.“ Der große Aufschrei in der Mitgliedschaft der IGM blieb leider aus, obwohl dieses Vorgehen Geist und Buchstaben des zitierten Beschlusses offensichtlich widerspricht.

Im Mai 2022 bereits hatte sich der DGB-Bundeskongress ausführlich mit dem Friedensthema befasst. Dazu gab es zwanzig Wortmeldungen. Delegierte wie Witich Roßmann vom DGB Köln verlangten ein Festhalten am Grundsatz: Keine Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete. Er wandte sich gegen die Infragestellung der Entspannungspolitik der 1970er/1980er Jahre, wies auf die Aufrüstungs- und Spannung schürende Politik der letzten 20 Jahre hin und kritisierte, dass hinsichtlich von Abrüstungsvereinbarungen zu wenig passiert sei. Ein Würzburger Delegierter forderte, gegen den Zeitgeist des Militärischen aufzustehen und seiner Logik zu widerstehen. Der Krieg werde nicht durch mehr Waffen, sondern nur durch Verhandlungen gestoppt. Dagegen setzte ein Kollege von der Polizeigewerkschaft Klagen über die schlechten Arbeitsbedingungen und die mangelhafte Ausrüstung der Soldaten in Mali und im Sudan. Eine Delegierte der gleichen Gewerkschaft meinte, es ginge in der Diskussion nicht um Aufrüstung, sondern um die notwendige Ausrüstung für „würdige (!) Arbeitsbedingungen“ der Soldatinnen und Soldaten. Für eine klare Ablehnung der 100 Milliarden „Sondervermögen“ anstelle einer „kritischen Beurteilung“ stimmte nur ein Drittel der Delegierten. In ihrer Zusammenfassung der Diskussion zum Initiativantrag des Bundesvorstands, der mit großer Mehrheit angenommen wurde, stellte die DGB-Vorsitzende fest, dass damit die Diskussion um Friedens- und Sicherheitspolitik in den Gewerkschaften erst begonnen habe.

Entlang ähnlicher Konfliktlinien verliefen auch die Diskussionen auf den Kongressen anderer Einzelgewerkschaften. So beschloss beispielsweise die GEW auf ihrem Gewerkschaftstag 2022 eine Verstärkung des friedenspolitischen Engagements und lehnte sowohl das 2-Prozent-Ziel wie auch das „Sondervermögen“ eindeutig ab.

Resümee der Debatten

Als Resümee der Debatten auf den Gewerkschaftstagen und der angenommenen Anträge lässt sich festhalten: der Angriff Russlands auf die Ukraine wird einhellig als völkerrechtswidrig verurteilt, die Politik der Bundesregierung gegenüber der Ukraine einschließlich Waffenlieferungen und Sanktionen gegenüber Russland wird unterstützt. Es wird kaum bis gar nicht über Kontext und Vorgeschichte des Ukrainekriegs gesprochen. Dass „der Westen“/die NATO am Krieg durch die Spannungspolitik der letzten Jahre mitschuldig ist, wird kaum gesehen. Kritisch bis ablehnend werden die 100 Milliarden Sonderschulden für die Bundeswehr gesehen, abgelehnt wird das 2-Prozent-Ziel (zum Teil mit der skurrilen Begründung, dass die Ausgaben damit ja konjunkturabhängig wären, also nicht verlässlich!); gefordert werden mehr diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges. Die Lieferung von Taurus-Raketen wird abgelehnt, ebenso wird die Bundesregierung nach wie vor aufgefordert, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen, die „nukleare Teilhabe“ wird abgelehnt. Gefordert wird ebenfalls, die Politik der militärischen Konfrontation zurückzudrängen und sich für allgemeine, weltweite kontrollierte Abrüstung einzusetzen.

Friedenspolitische Geschichte

Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie und dass sich Diskussionsstände in der Gewerkschaftsbewegung verändern (lassen). Dabei bleibt der Blick auf die Gewerkschaften in der BRD (vor allem auf den DGB als Dachorganisation) begrenzt – die Rolle des FDGB in der DDR wäre einen eigenen Artikel wert.

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Mit dem Schutzhelm in der ersten Reihe beim Ostermarsch Ruhr 1989 (Foto: Klaus Rose)

In den Anfangsjahren nach der Gründung des DGB im Oktober 1949 unterstützte dessen Führung die Außenpolitik Adenauers hinsichtlich der Westorientierung und auch der Wiederbewaffnung: gegen die Vorstellungen der SPD, die beides ablehnte, da dadurch die Spaltung Deutschlands zementiert würde. Hatte im „Petersberger Abkommen“ zwischen der Alliierten Hohen Kommission und dem Bundeskanzler im November 1949 Adenauer noch seine „ernste Entschlossenheit“ bekundet, „die Wiederaufstellung bewaffneter Streitkräfte jeder Art“ zu verhüten, so wurde schon im Mai 1950 eine Gruppe ehemaliger Hitler-Generäle beauftragt, eine Denkschrift zur Wiederbewaffnung der BRD zu entwerfen („Himmeroder Denkschrift“). Die ersten beiden DGB-Vorsitzenden Böckler und Fette unterstützten diesen Kurs – wegen der „Gefahr aus dem Osten“. Der DGB sah sich zu dieser Zeit ohnehin als eine Speerspitze in der Auseinandersetzung mit „dem Kommunismus“. Heftige innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen gegen diese Unterstützung der Wiederaufrüstung führten dazu, dass deren Befürworter, unter anderen der Vorsitzende Fette, auf dem 2. Bundeskongress im Oktober 1952 abgewählt wurden. Aber erst der 3. Kongress zwei Jahre später lehnte mehrheitlich die Remilitarisierung und die Schaffung einer deutschen Armee ab, weil damit die „Gefahr der Schaffung eines militaristischen (sic!) Obrigkeitsstaates“ verbunden sei.

Gegen Militarisierung und Atomtod

Nachdem der Bundestag die Wiederaufrüstung beschlossen hatte, hielt der Hamburger Bundeskongress des DGB 1956 in einem Antrag fest, die Kräfte zu unterstützen, die die Wiederbewaffnung und die Wehrpflicht rückgängig machen wollen. Bereits seit 1955 waren führende DGB-Vertreter bei der „Paulskirchenbewegung“ gegen die Remilitarisierung dabei.

Als im März 1958 die Bundesregierung die atomare Bewaffnung der Bundeswehr beschloss, stellte sich der DGB (zusammen mit der SPD) an die Spitze der Bewegung „Kampf dem Atomtod“. In diesem Zeichen stand auch der 1. Mai 1958 – Beleg dafür, dass der 1. Mai sich über sozialpolitische Forderungen hinaus auch hochpolitisch positionieren kann. Die tariflichen Kämpfe in diesen Jahren standen unter dem Zeichen der Auseinandersetzung mit der Politik der Adenauer-Regierung; sie förderten das politische Bewusstsein der Beschäftigten und stärkten die Rolle der Gewerkschaften als einer politischen Kraft im außerparlamentarischen Raum.

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Protest gegen die Notstandsgesetze vor dem SPD Bezirksparteitag in Bremen 1965 (Foto: Klaus Rose)

Beeinträchtigt wurde die gewerkschaftliche Auseinandersetzung mit der Aufrüstungspolitik allerdings in all den Jahren durch eine dezidiert antikommunistische und gegen die sozialistischen Länder gerichtete Grundhaltung. Und nicht vergessen werden darf die Verabschiedung des „Godesberger Programms“ der SPD, mit dem sie sich endgültig, auch programmatisch, vom Marxismus trennte und ihren Frieden mit der NATO machte. Das beeinflusste die Diskussionen in der Gewerkschaftsbewegung sehr stark, ihre Unterstützung von Friedensaktivitäten ließ nach. Spürbar wurde das bei der Ostermarschbewegung.

Diese in den 1960er Jahren beginnende Bewegung fand in den Führungsebenen der Gewerkschaften keine Unterstützung. Zahlreiche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sowie Gliederungen schlossen sich ihr jedoch an, gegen Warnungen aus den Gewerkschaftsspitzen. Auch bei betrieblichen Funktionärinnen und Funktionären sowie Belegschaften, besonders im Ruhrgebiet, fand sie wachsenden Zuspruch.

Eine außerparlamentarische Massenbewegung, in der die Gewerkschaften – trotz heftiger Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen – eine wichtige Rolle spielten, war die Widerstandsbewegung gegen die Notstandsgesetze. Sie setzte ab Mitte der 1960er Jahre die gewerkschaftlichen politischen Kämpfe der 1950er Jahre, damals gegen Wiederaufrüstung und atomare Bewaffnung gerichtet, fort – bemerkenswerterweise erstmals als Bewegung ohne und gegen die SPD, die bekanntlich diese Gesetzgebung mittrug.

NATO-Doppelbeschluss

Ein ähnliches Bild sehen wir in den 1980er Jahren bei der Auseinandersetzung um den sogenannten „NATO-Doppelbeschluss“. Hatten die Gewerkschaften in den 1970er Jahren noch die Entspannungspolitik Willy Brandts gestützt, so unterstützten sie jetzt das dazu im Widerspruch stehende Vorhaben von Bundeskanzler Schmidt, atomare Mittelstreckenraketen zu stationieren: Es gebe eine „Raketenlücke“, die geschlossen werden müsse. 1981 verbot der DGB seinen Untergliederungen noch, gemeinsam mit einer großen politisch breiten Friedensbewegung, in der auch die Kommunisten eine wichtige Rolle spielten, zu Friedensdemonstrationen gegen die Stationierung aufzurufen. Angesichts der Breite der Bewegung und der Unterstützung durch viele gewerkschaftliche Gremien, von Mitgliedern aus allen DGB-Gewerkschaften, auch von prominenten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, ließ sich das Verbot, gemeinsam mit der Friedensbewegung zu demonstrieren, nicht lange aufrechterhalten. Es hatten sich auch Spitzenpolitiker der SPD dem Protest angeschlossen: Eppler und Lafontaine sprachen vor hunderttausenden Demonstranten im Bonner Hofgarten. Und so forderte der DGB-Bundesvorstand schließlich im Juli 1983, die Entspannungspolitik konsequent fortzusetzen und das Wettrüsten zu beenden, auf die Entwicklung, Erprobung und Stationierung neuer Atomwaffen zu verzichten und keine neuen Mittelstreckenraketen in Europa aufzu­stellen.

Dieser kurze Blick in die Geschichte zeigt: die Rolle und die Haltung der Gewerkschaften in der Auseinandersetzung um eine Friedenspolitik war schon immer umstritten, der Weg war alles andere als geradlinig. Antikommunismus, sowohl nach innen wie nach außen, gleichzeitig Unterstützung der Politik des Westens und der NATO behinderten immer wieder eine verlässliche langfristige Friedenspolitik. Immer aber gab es starke Kräfte, die Kursänderungen im DGB und den Einzelgewerkschaften durchsetzen und dafür sorgen konnten, dass die Gewerkschaften ein wichtiger Teil der Friedensbewegung waren. Vorreiter dabei waren auch häufig Einzelgewerkschaften wie die IG Metall, HBV, IG Druck und ­Papier.

Antikriegstag 2021 …

Machen wir einen Zeitsprung in die 2020er Jahre: Schon in den Jahren zuvor hatten sich die friedenspolitischen Verhältnisse immer weiter zugespitzt. Die NATO hatte sich immer weiter nach Osten ausgedehnt. Nach Jahren des Rückgangs stieg der Verteidigungshaushalt wieder kontinuierlich an. Die USA kündigten diverse Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge, das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit in einem gemeinsamen Haus Europa spielte keine Rolle mehr. „Sicherheit“ wurde gedacht als Sicherheit gegen, nicht Sicherheit mit Russland. Die neue NATO-Strategie wertete der DGB im Aufruf zum Antikriegstag 2021 so: „Mit der neuen NATO-2030-Strategie soll der Weg von einem Verteidigungsbündnis hin zu einer Interventionsallianz für Militäreinsätze außerhalb des Bündnisgebiets bereitet werden. Durch eine Stärkung der nuklearen Abschreckung und durch Pläne für eine stärkere militärische Präsenz im indopazifischen Raum setzt die NATO gezielt auf Konfrontation gegenüber Russland und China.“ Diese Erkenntnisse hatten allerdings nicht dazu geführt, dass sich die Gewerkschaften in die Diskussionen um NATO-Erweiterung und den gezielten Aufbau der Ukraine zu einem Frontstaat gegen Russland eingeschaltet hätten. Überhaupt lässt sich festhalten, dass friedenspolitische Stellungnahmen sich auf Ostermarsch- und Antikriegstagsaufrufe beschränkten, Friedenspolitik war (und ist) kein selbstverständlicher Teil von Gewerkschaftspolitik, man überlässt sie weitgehend der jeweiligen Regierung.

… schnell vergessen

Mit dem Beginn des Ukrainekrieges waren die Erkenntnisse aus dem Aufruf von 2021 vergessen. Trotzdem hielten die Gewerkschaften am Ziel der gemeinsamen Sicherheit fest und forderten eine aktive Friedenspolitik, wie es in den Aufrufen zu „Großdemos für den Frieden“ hieß, die im März 2022 in verschiedenen Städten stattfanden, zu denen der DGB zusammen mit anderen Organisationen aufrief. Allerdings ging dieses Ziel vielerorts unter, im Mittelpunkt stand eher die Unterstützung der Regierungspolitik einschließlich der Sanktionspolitik und der Waffenlieferungen, auch wenn einige Redner sich strikt dagegen aussprachen, wie zum Beispiel Jürgen Grässlin von der DFG/VK in Stuttgart; das erregte zum Teil heftigen Widerspruch bei den Kundgebungsteilnehmern.

Zu den kurz darauf folgenden Ostermärschen riefen DGB und die Einzelgewerkschaften mit einem eigenen Aufruf auf. In ihm wird Russland heftig verurteilt, der Krieg als „beispielloser Angriff auf die europäische Friedensordnung“ gewertet. Der Angriff der NATO auf Jugoslawien wurde seinerzeit ganz anders gesehen, führte aber auch damals schon zu heftigen Auseinandersetzungen in der Gewerkschaftsbewegung. Gefordert wird jedoch auch, mit Hochdruck an diplomatischen Lösungen zu arbeiten. „Wir wollen ein starkes Zeichen gegen eine Politik der militärischen Konfrontation, gegen einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf und gegen eine Aufstockung der Arsenale an Massenvernichtungswaffen setzen. Der Ukrainekrieg macht drastisch deutlich, wie richtig und wichtig es ist, am Ziel einer allgemeinen und weltweit kontrollierten Abrüstung festzuhalten.“ Die militärische Friedenssicherung dürfe nicht „zulasten des sozialen Friedens“ gehen, das 2-Prozent-Ziel der NATO wird kritisch gesehen. Waffenlieferungen werden nicht erwähnt.

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Gewerkschafter beim Ostermarsch 2022 in Göttingen (Foto: KPWittemann / r-mediabase )

Auch in den Folgejahren rief der DGB bundesweit zur Beteiligung an den Ostermärschen auf, manche Gliederungen wollten sich jedoch an den örtlichen, von der Friedensbewegung organisierten Kundgebungen nicht beteiligen. Gleichzeitig aber sprachen auch hauptamtliche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter auf den Ostermärschen, in Stuttgart beispielsweise beim landesweiten Ostermarsch 2022 der ver.di-Landesvorsitzende, 2024 seine Stellvertreterin. Solche vergleichsweise „hochrangige“ Hauptamtliche waren allerdings eher die Ausnahme. Schwerpunkt der Reden bildeten die Ablehnung der Aufrüstung und die Forderung, stattdessen mehr Geld für Soziales, Bildung, Wohnen auszugeben.

Waffen oder Sozialpolitik?

Gerade diese Gegenüberstellung von Aufrüstung und fehlendem Geld für Soziales und die notwendige ökologisch-soziale Transformation müsste eine der wichtigsten Argumentationen der Gewerkschaften sein. In Aufrufen, auch zum Antikriegstag, spielt das durchaus eine Rolle, leider nicht in der alltäglichen gewerkschaftlichen Politik. Eindeutige Gewerkschaftsbeschlüsse, die sich gegen die 2-Prozent und die 100 Milliarden „Sondervermögen“ wenden und mehr Geld für Soziales, Bildung, Wohnen, Gesundheit fordern, werden ignoriert.

Um die Diskussion in den Gewerkschaften über Friedenspolitik zu führen, wie es immer wieder auf Gewerkschaftstagen gefordert wurde, gab es Veranstaltungen von vielen Gewerkschaftsgliederungen, die nicht darauf warten wollten, dass dieser Diskussionsprozess „von oben“ organisiert wird, auch in den Mitgliederzeitschriften zumindest der beiden großen Gewerkschaften ver.di und IGM, aber auch der GEW kommt das Thema nur in Form von gelegentlichen Leserbriefen vor. Deutlich ist, dass viele Mitglieder und Funktionäre unsicher sind, ob ihre frühere pazifistische, Aufrüstung und NATO ablehnende Haltung noch richtig ist. Bei vielen führt das nicht zu einem größeren Diskussionsbedürfnis, sondern eher dazu, Debatten darüber zu vermeiden.

Hoffnungsschimmer: Hanau und Stuttgart

Wissen über Kriege und ihre Ursachen zu vermitteln, über die geopolitische Situation, ohne die sich der Ukrainekrieg, aber auch die angespannte Situation im Indopazifik nicht erklären lassen, und die Debatte darüber zu führen – das waren die erklärten Ziele der beiden friedenspolitischen Gewerkschaftskonferenzen in Hanau 2023 und im Juni 2024 in Stuttgart. Sie sollten auch Anstöße für weitere Diskussionen in den Gewerkschaften geben und zur Vernetzung beitragen. Auf hochkarätig besetzten Podien debattierten Menschen aus der Friedens- und Umweltbewegung mit ehren- und hauptamtlichen Gewerkschafter:innen über die notwendige Zusammenarbeit (der baden-württembergische DGB-Landesvorsitzende unterstrich diese Notwendigkeit, musste in der Diskussion allerdings harsche Kritik über die fehlende Umsetzung durch den DGB ertragen). Ein Rückzug auf tarifliche Bereiche schwäche die Gewerkschaften längerfristig, sie müssten ein politisches und damit auch ein friedenspolitisches Mandat wahrnehmen, sagte Ulrike Eifler, IGM-Sekretärin in Würzburg. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte beide Konferenzen angestoßen, in Hanau war die dortige IG Metall Mitveranstalter, in Stuttgart der ver.di-Bezirk. Geplant ist eine ähnliche Konferenz im nächsten Jahr, wahrscheinlich im Osten der Republik. Konsens unter den Veranstaltern war, dass solche Kongresse wichtige Impulse für die innergewerkschaftliche Meinungsbildung geben können. Auskunft über den Diskussionsstand in der Gewerkschaftsbewegung und ihre Bereitschaft zu Aktivitäten werden der Antikriegstag, die bundesweite Friedensdemonstration am 3. Oktober in Berlin und auch die Kundgebung am 12. Oktober in München geben, die unter dem Motto „Soziales rauf – Rüstung runter“ von ver.di und GEW München veranstaltet wird.

Kurzes Fazit

in kurzes Fazit der Gewerkschaftsbewegung in der „Zeitenwende“: Bisherige friedenspolitische Grundsätze wurden aufgegeben oder aufgeweicht, allerdings betrachten sich die Gewerkschaften nach wie vor als Teil der Friedensbewegung und nehmen auch an deren Aktivitäten in unterschiedlichem Maß teil. Eine Friedensdiskussion findet vor allem „von unten“ bis hinauf in Bezirksebenen statt, auf Bundesebene nur sehr begrenzt in Form von der einen oder anderen Videokonferenz. Wichtige friedenspolitische Beschlüsse wie die Forderung nach diplomatischen Bemühungen anstelle immer neuer Waffenlieferungen, Ablehnung der 100 Milliarden und des 2-Prozent-Ziels ebenso wie die Ablehnung von Nuklearwaffen und ihre Stationierung in Deutschland und die Aufforderung an die Regierung, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten, werden in der Öffentlichkeit kaum sichtbar vertreten. Allerdings können friedensbewegte Gewerkschaftsmitglieder und Gliederungen aufgrund dieser Beschlüsse entsprechende Aktivitäten entwickeln – und sie tun es auch.

Wichtige Aufgabe für Friedensbewegte in den Gewerkschaften wird in der nächsten Zeit sein, dafür zu kämpfen, dass die Gewerkschaften endlich den Gazakrieg Israels verurteilen, sich lautstark für diplomatische Bemühungen statt Waffenlieferungen im Ukrainekrieg und für Soziales statt Rüstung einsetzen und die Verknüpfung in den Tarifauseinandersetzungen herstellen. Dass es keine Ablehnung der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen gibt, ist nicht hinnehmbar. Gleichzeitig muss auch diskutiert werden, wie es in einer „kriegstüchtigen“ Gesellschaft mit sozialen und Gewerkschaftsrechten aussieht. Die Bedingungen dafür sind sicher nicht einfach, aber die ganze Geschichte der Gewerkschaftsbewegung mit ihren Zickzackbewegungen zeigt, dass wir nicht pessimistisch sein müssen.

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"Frieden oder Burgfrieden?", UZ vom 27. September 2024



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