Geschichtsfälschung und Revanchegelüste

Das EU-Parlament forderte 2009 in einer Entschließung, jeweils am 23. August einen europaweiten „Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ zu begehen. Das Datum bezieht sich auf den 23. August 1939, an dem der wahlweise „Hitler-Stalin-Pakt“ oder „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ genannte Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion geschlossen wurde. Allein die Wortwahl „Pakt“ besagt, dass es sich dabei um die Fortsetzung einer Nazi-Propagandaformel handelt, mit der ein deutsch-sowjetisches Bündnis suggeriert werden sollte. Seit Beginn des Kalten Krieges diente dies dazu, der UdSSR imperialistische Expansionsabsichten und Aggressivität zu unterstellen – so wie dies heute Russland unterstellt wird. In Wirklichkeit geht es um Revanche für den Sieg der Roten Armee von 1945.

Zum 23. August dieses Jahres veröffentlichten die EU-Vizepräsidentin Vera Jourová und EU-Kommissar Didier Reynders eine Erklärung, die mit dem Satz beginnt, mit dem „Pakt“ habe sich „Dunkelheit über Europa“ gesenkt. Demnach waren nicht die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland, die Etablierung von zum Faschismus neigenden Regimen in Osteuropa oder die Niederlage der Spanischen Republik gegen den faschistischen Putsch Zäsuren, die den Weg zum Zweiten Weltkrieg öffneten, sondern das Abkommen von 1939.

Münchener Abkommen

„Vergessen“ wird wie üblich der 29. September 1938, der Tag des Münchner Abkommens. Darin überließ der Westen Hitler (sowie Polen und Ungarn) die Tschechoslowakei. Das Signal war: Frankreich und Großbritannien legen beim Marsch nach Osten keine Steine in den Weg. Wer vom 23. August 1939 redet, aber vom 29. September 1938 schweigt, verfälscht Geschichte. Um sie zu wiederholen? Die Parallelen zu den 30er Jahren sind jedenfalls da: NATO und EU tun alles, um ein kollektives Sicherheitssystem in Europa unter Einschluss Russlands zu verhindern.

Revanche bedeutet Krieg

Als die Sowjetunion und die sozialistischen Länder des Kontinents vor 30 Jahren untergingen, stand ein solches System erneut auf der Tagesordnung. Der Westen unterbrach aber nie seine aggressive Einkreisungs- und Aufrüstungspolitik. Heute steigert sie erneut die Gefahr eines Atomkrieges. Jourová und Reynders führen wieder die „Werte“ der EU an, für die „wir“ „entschlossen eintreten“ müssten. Das besagt: Sie sind entschlossen, den Druck auf Russland zu erhöhen. Revanche bedeutet letztlich Krieg.

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"Geschichtsfälschung und Revanchegelüste", UZ vom 28. August 2020



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