Eine Reportage aus dem NATO-Protektorat Afghanistan

Gewalt, politische Stagnation, ökonomische Krise, Resignation und Hoffnungslosigkeit

Von Matin Baraki

Die islamistische Organisation „Dahesch“, wie die Afghanen sie nennen, Islamischer Staat (IS), die etwa Mitte Dezember 2014 zum ersten Mal in der afghanischen Nordprovinz Faryab aufgetaucht ist, hat sich inzwischen auch in den Provinzen Ghasni, Helmand, Farah, Kandahar und Parwan ausgebreitet. Seit dem 22. Februar 2015 ist der IS auch in der 60 km südlich von Kabul gelegenen Provinz Logar aktiv. Dort überfielen sie einen Laden, in dem Fernsehapparate verkauft wurden, und zerstörten die Geräte. Die Aktivitäten des IS, schon fast vor den Toren Kabuls, werden von politischen Beobachtern in Kabul als Warnsignal bewertet, meldete der führende Kabuler Sender Tolo-TV am 22. Februar in den Abendnachrichten.

Inzwischen haben sich dem IS etwa 20 000 Menschen aus verschiedensten Ländern der Welt angeschlossen. Darunter 150 Kämpfer aus den USA und 3 400 aus arabischen Ländern, meldeten die afghanischen Fernsehanstalten. Diese Tatsache beunruhigt die Machthaber und ihre Verbündeten in Kabul. Am 12. März berichteten afghanische TV-Sender, dass eine Splittergruppe der Taliban sich dem IS angeschlossen und demonstrativ dessen schwarze Flagge gehisst hätte. Dies fand der Oberbefehlshaber der US- und NATO-Truppe in Afghanistan, General Martin Dempsey, auf einer Pressekonferenz am 12. März in Kabul ziemlich besorgniserregend. Inzwischen sind die Reiterkolonnen des IS in Afghanistan weiter auf dem Vormarsch. Das hat eine solche Dimension erreicht, dass sich am 27. März sogar der UN-Sicherheitsrat mit dem Thema befasste. Der erste Vizepräsident Afghanistans, General Abdul Raschid Dostum, hat bei einer Rede zum afghanischen Neujahr, am 1. Hamal 1394 [21. März 2015] in Masar e Scharif von ausgedehnten Aktivitäten des IS in den nordafghanischen Provinzen gesprochen. Dies bedrohe die Sicherheit Afghanistans, betonte Dostum. Da die Nordprovinzen Afghanistans direkt an die mittel­asiatischen Republiken grenzen, würden durch eine weitere Expansion des IS auch Russlands Sicherheitsinteressen tangiert. Beobachter befürchten eine militärische Eskalation über die afghanische Grenze hinaus, deren Ende niemand absehen kann. Am 24. März berichteten die afghanischen Medien über die ersten Todesopfer durch IS-Einheiten. Sie hatten in der Nacht auf der Strecke Kabul-Kandahar mehrere LKWs überfallen, zwölf Personen, meistens Fahrer, wurden erschossen und sieben weitere verletzt. Einen Tag später töteten erneut einige IS-Kämpfer im Distrikt Sayed Abad in der Provinz Wardag, einen Steinwurf entfernt von Kabul, dreizehn Menschen. Der Präsident des Parlaments, der Verteidigungs- und Innenminister sowie der Präsident der nationalen Sicherheit schlugen Alarm. Sie sprachen von einer realen Bedrohung Kabuls durch den IS. Der Kabuler Präsident Aschraf Ghani Ahmadsai[1] hat in einer Rede vor dem US-Kongress am 26. März neben peinlichen Schmeicheleien gegenüber den USA[2] den IS als Bedrohung für Süd- und Mittelasien eingestuft. Die Aufregung Ghanis ist verständlich, denn der IS ruft nach neuesten Meldungen im nordafghanischen Distrikt Sare-Pul die Bevölkerung offen zur Zusammenarbeit auf.

Der IS ist am Hindukusch keine neue Bewegung. Teile der Taliban haben den IS adaptiert und sich umbenannt. In diesem Zusammenhang gewinnt die internationale Dimension des Islamismus eine neue Bedeutung.

Im Schatten dieser Ereignisse wurde am 25. März dort, wo sich sowohl das Finanz-, Verteidigungs- und Justizministerium als auch der Palast des Präsidenten befinden, ein Selbstmord­attentat mit sechs Todesopfern und 31 Verletzten verübt. Im Vergleich zu den IS-Aktivitäten wurde dies fast als Nebensache zur Kenntnis genommen. Am Hindukusch haben die Menschen sich nach 43 Jahren Krieg so an Selbstmordattentate gewöhnt wie an tägliche Verkehrsunfälle.

Das beste Mittel, den islamischen Terrorismus zu bekämpfen, ist es, ihn zu finanzieren. Nach diesem Credo handelte zumindest die Kabuler Administration unter Ghanis Vorgänger Hamid Karsai. Es ist längst bekannt, dass Karsai von der CIA ganze Säcke voll Dollars für seine schwarzen Kassen bekommen hat. Nach einem Bericht der New York Times hat die Kabuler Administration 2010 von den fünf Millionen Dollar geheimer CIA-Zuwendungen eine Million als Lösegeld an Al Kaida in Peschawar für die Freilassung des afghanischen Generals Abdul Khaleq Farahi bezahlt, berichtete Tolo-TV am 15. März.

Im Lande der Räuber

„Sang Kromayt“, der besondere Stein, der in der 60 Kilometer südlich von Kabul gelegenen Provinz Logar gefunden worden ist, wurde unrechtmäßig und unsachgemäß von einigen Parlaments­abgeordneten und hochrangigen Ministerialbürokraten ausgegraben und mit LKWs nach Pakistan geschmuggelt. Die Warlords haben schon seit 2001 Lapislazuli, Smaragde und andere wertvolle Edelsteine geraubt und ins Ausland geschafft. Nun wollten sie sich eben auch an diesem seltenen Rohstoff des Volkes bereichern.

Gruppenvergewaltigung findet Nachahmung

Von den Nachbarn lernen, heißt eben auch, vergewaltigen lernen. Seit einiger Zeit haben auch afghanische Männergruppen begonnen, Frauen und Mädchen zu vergewaltigen. Im November 2014 haben 18 Söldner des Ultraislamisten und Warlords Abdul Raab Rasul Sayyaf zwei Frauen und ein Mädchen in Anwesenheit ihrer Männer und anderer Angehöriger brutal vergewaltigt. Die Frauen wurden dann von ihren Verwandten ins Krankenhaus gebracht, wo ein junges Mädchen seinen schweren Verletzungen erlag. Die Familie war nach einer Hochzeitsfeier nach Paghman unterwegs, wo Sayyaf seine Hochburg hat. Unter den Vergewaltigern waren auch zwei Neffen Sayyafs, von denen angeblich jede Spur fehlt. Eher gehen Beobachter in Kabul davon aus, dass die Staatsorgane sich nicht trauen, Sayyafs Neffen zur Rechenschaft zu ziehen.

Zum Internationalen Frauentag am 8. März wurde in den afghanischen Medien von 4 837 ernsthaften Gewalttaten gegen Frauen im Jahre 2014 berichtet. Die Frauen werden in der Familie, auf dem Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit Opfer von brutalen Männern. Am 19. März wurde in Kabul eine junge Frau, Farkhondah, auf offener Straße von einem Dutzend wild gewordener Männer mit Stöcken, Steinen und Fußtritten zu Tode geprügelt. Danach fuhr einer von ihnen mit einem Auto über ihre Leiche. Ein weiterer Mann hat sie dann mit Benzin übergossen und angezündet. Dabei war das Geschrei von Männern zu hören: „Es lebe der Islam und Gott ist groß.“ Aber auch die Todesschreie von Farkhondah habe ich deutlich gehört.

Farkhondah hatte die Medrese (theologische Oberschule) mit Abitur abgeschlossen, hatte Koran mit Übersetzung studiert und wollte an der theologischen Fakultät ihr Studium fortsetzen. Sie war eine aufgeklärte Theologin. Als sie den Frauen erklärte, dass Amulette nichts nutzen und der Mullah der Moschee doch bitte mit diesem Betrug aufhören solle, rief der Geistliche als Rache in die Menge, dass Farkhondah angeblich den Koran verbrannt hätte. Die Sicherheitskräfte in Kabul gaben am 20. März den Medien zufolge an, dass am Tatort nur einige Papierfetzen, aber keine Koranreste gefunden worden waren. Dies bestätigte auch der Innenminister, General Noorul Haq Ulumi.[3] Am 21. März gaben mehrere Zuschauer an, dass die Polizei nur zugeschaut und die Täter nicht daran gehindert hätte, Farkhondah zu ermorden. Daraufhin sprach sich der Innenminister vor der Presse für die Bestrafung der Täter aus, aber über seine untätigen Polizisten, sagte er nichts. Am 24. März sah ich dann auf Facebook einen Film, in dem bewaffnete Polizisten um die auf dem Boden liegende Farkhondah laufen, um die Täter zu vertreiben, aber kurz danach lassen sie den brutalen und tödlichen Angriff zu. Erst am 22. März wurde bekannt, dass einige Personen, darunter auch Polizisten, verhaftet worden seien.

Farkhondah wurde am 22. März ausschließlich von Frauen zu Grabe getragen. Das ist einmalig in der afghanischen Geschichte. Diese mutigen Frauen haben „Mohammad Ayaz Nyazi“, den männlichen Geistlichen von Wazir Akbarkhan, des Wohnortes Farkhondahs, nicht erlaubt, am ihrem Grab zu predigen. Sie haben ihn buchstäblich verjagt. Nyazi, Senator Zalmay Zabuli und Zimin Ghazal Hasanzadah, Staatssekretärin des Informationsministeriums hatten vor ihrer Ermordung, gegen Farkhondah heftig polemisiert. Damit hatten sie propagandistisch die Bedingungen für das Verbrechen begünstigt. Eine Untersuchungskommission hat, am 26. März die Unschuld Farkhondahs festgestellt.

Da die Anwendung von Gewalt zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden ist, fühlen sich die Afghaninnen nirgends sicher. Die staatlichen Organe haben nur eine Zuschauerfunktion und verfolgen die Täter kaum oder gar nicht. Proteste der Frauenorganisationen werden mit Schmunzeln registriert.

Auch der deutsche Botschafter in Kabul, Markus Potzel, sah sich veranlasst, am 10. März auf einer Veranstaltung in Kabul auf die miserable Lage, er nannte sie diplomatisch verbrämt „schwache Rolle der afghanischen Frauen“ in der Gesellschaft, hinzuweisen.

Auf diese Regierung ist kein Verlass

In der letzten Februarwoche 2015 gab es in der nördlich von Kabul gelegenen Provinz Pandjscher starke Schneestürme und Schneelawinen, dabei wurden bis zum 1. März zunächst 196 Tote und 100 Verletzte registriert. Wie viele Menschen unter den Schneemassen begraben wurden, weiß niemand. Komplette Dörfer waren weiter verschüttet, außerdem wurden am 1. März weitere Schneefälle vorausgesagt. Die Bewohner der Ortschaften riefen die Behörden zu Hilfe, um ihre verschütteten Angehörigen zu befreien bzw. die dort noch lebenden zu evakuieren. Passiert ist jedoch nichts. Die Menschen konnten sich nur gegenseitig helfen. Die Administration in Kabul hat eine dreitägige „Nationale Trauer“ verkündet und eine medienwirksame Trauershow organisiert. Der Chefadministrator Abdullah Abdullah hat auf einer Pressekonferenz von Hilfslieferungen, auch aus den Nachbarländern gesprochen. Wo die Hilfsgüter gelandet sind weiß nur der liebe Gott. Zumindest sind sie nicht bei den Bedürftigen angekommen. Davon gehen die Afghanen nach den in vergangenen Jahren gemachten Erfahrungen aus. Auf diese Regierung ist kein Verlass, sagen die besorgten Menschen. „In Afghanistan muss man mindestens zehn Kinder haben. Denn wenn zwei bei einem Selbstmordattentat, zwei bei einer Minenexplosion, zwei bei einer Überschwemmung und zwei bei einer Schneelawine ums Leben kommen, bleiben, wenn man Glück hat, noch zwei übrig“, sagte der Kabarettist Ibrahim Abed in der Tolo-TV-Sendung „Dialog“.

Nach dem Schneefall hatten Kabul und Umgebung täglich nur noch zwei Stunden Strom, weil die Hauptleitungen beschädigt wurden. Farsanah wohnt mit ihren drei Kindern ca. 15 km entfernt vom Zentrum der afghanischen Hauptstadt. Da sie ihr Zimmer mit Strom heizt, mussten sie und ihre Kinder nun frieren. Da der Winter in Kabul auch in diesem Jahr zu kalt war, und die Gefahr bestand, dass ihre Kinder erfrieren könnten, musste sie deshalb einen Plastikkanister, den „Boschka“, mit heißem Wasser füllen, den man unter eine Decke legt, um die sich dann alle sammeln. Am 9. März stellte ich fest, dass Farsanah schwer erkältet war. Sie war besorgt, dass ihre Kinder auch noch krank werden könnten. Ihr Zimmer war feucht und an der Decke reichlich Schimmel sichtbar. Als ich sie darauf ansprach, schaute sie mich mit traurigen Augen hilflos an, da sie nichts dagegen tun kann. Sie bekommt von mir jährlich eine Spende, damit sie sich das Nötigste finanzieren kann. Ihr Mann Sabih ist ihr weggelaufen und hat sich noch eine weitere Frau, Basminah, genommen. Er kümmert sich weder um Farsanah noch um ihre gemeinsamen drei Kinder, die in der Schule sehr schlecht sind. Sabihs neue Ehe ist auch nicht vom Glück gesegnet. Er prügelt Basminah oft, sogar in Anwesenheit der Kinder, weil sie ihm widerspricht. Abends kommt er fast immer spät nach Hause. Wenn die Frau sich darüber beschwert bzw. nach dem Grund fragt wird sie belogen, beschimpft oder geprügelt. Bei nächster Gelegenheit verschwindet die junge Frau mit ihren drei Kindern und versteckt sich bei ihrer Mutter in der Stadt Kabul. Da sie ohne Erlaubnis des Mannes das Haus verlässt, wird sie dann gründlich von ihrem Mann und dem Schwiegervater verprügelt. „Der Platz der Frau ist entweder das Haus ihres Mannes oder ihr Grab“, lautet ein afghanisches Sprichwort.

Die Bevölkerung der westafghanischen Provinz Herat hat wegen Stromausfalls mit einem unbegrenzten Streik begonnen. Solange die Stromversorgung nicht normalisiert ist, wollen sie ihre Stromrechnungen nicht mehr zahlen, hat der Sprecher der Streikenden am 4. März angekündigt. Er sagte Tolo-TV: „Obwohl die Bewohner Herats die meisten Steuern bezahlen, kümmere sich die Regierung nicht um sie.“

Das Volk friert, die Regierung feiert

Vor einem Jahr am 18. Hut 1392 (9. März 2014) ist der Warlord, Kriegsverbrecher, Chef einer Entführungsindustrie, Räuber von staatlichem Grund und Boden, selbst ernannte Marschall und Islamist, erste Vizepräsident des CIA-Mannes und Kabuler Präsidenten Hamid Karsai, Mohammad Qasim Fahim, gestorben. Zum Jahrestag seines Todes, die Afghanen nennen ihn verächtlich „Mordar schud“ („Er ist versaut“), hat die Kabuler Adminis­tration eine spektakuläre Gedenkfeier veranstaltet. Sie wurde von einer eigens dafür gebildeten Kommission vorbereitet. Fahim war Sicherheitschef und Rivale des berühmten und berüchtigten Nordallianz-Kommandanten Ahmad Schah Masud. Als Masud 2001 durch ein Attentat ums Leben kam, waren die politischen Beobachter am Hindukusch davon überzeugt, dass Fahim es geschehen ließ. Obwohl bekannt war, dass Masud gefährdet war, ließ Fahim den Täter, der sich als Journalist ausgab, nicht ausreichend kontrollieren. Nach Masuds Tod wurde Fahim sein Nachfolger. Hier fand die These ihre Bestätigung, dass Fahim ein „Königsmörder“ sei. Was auf der Veranstaltung für Lobgesänge, sowohl durch Karsai als auch durch den amtierenden Präsidenten Aschraf Ghani, verbreitet wurden, war kaum zu ertragen. Fahim sei „ein realistischer Politiker“ gewesen, so lautete Aschraf Ghanis Loblied, und „eine dschihadistische Figur“. Diese „Figuren“ werden in der Bevölkerung inzwischen nur noch verachtet.

Der Kampf um den Kopf des toten Kalbes

Zehntausende Mitarbeiter der sogenannten Unabhängigen Wahlkommission stehen jetzt auf einer schwarzen Liste. Ihnen wird vorgeworfen bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2014 massiv an Fälschungen beteiligt gewesen zu sein. Sie sollen aus der Kommission entlassen werden, wenn sie sich nicht glaubhaft verteidigen können, verkündete der Kommissionssprecher bei einer Pressekonferenz am 1. März in Kabul. Politische Beobachter in Kabul gehen davon aus, dass hier alte Rechnungen beglichen werden, um einige unliebsame Gegner los zu werden. Die Menschen in Afghanistan machen sich lustig darüber und sagen: „Der Kopf des toten Kalbes ist doch schon längst verteilt, was soll jetzt dieses billige Theater?“ „Die Menschen kämpfen ums Überleben, die vom Ausland eingesetzte politische Klasse macht nur noch Zirkus“, hörte ich von zahlreichen besorgten Gesprächspartnern. „Unserem Land fehlt es an Patrioten, die ‚Khareji‘ (Ausländer) dienen nur ihren Herren und sind deren Interessenvertreter“, sagte mir einstimmig eine Gruppe von jungen Studenten, die ihre Namen nicht veröffentlicht sehen möchten. Sie waren so vorsichtig bzw. verängstigt, dass sie ihre Hochschule auch lieber unerwähnt ließen.

Bankrotte Kabuler Administration

Ahad ist Oberst der afghanischen Armee und an einer sensiblen Stelle am Flughafen Kabul eingesetzt. Sein monatlicher Sold beträgt 23 000 Afghani, das sind umgerechnet 400 US Dollar. Da am Hindukusch die Gehälter afghanisches, jedoch die Preise auf dem Basar US-amerikanisches Niveau haben, reicht das Gehalt von Ahad nicht für den täglichen Lebensunterhalt seiner siebenköpfigen Familie. Außerdem hat er seit drei Monaten überhaupt keinen Sold mehr bekommen. Er musste deshalb Schulden machen, um seine Familie über Wasser zu halten. Am 3. März teilte mir seine Frau mit, dass er heute seinen Sold bekommen hätte, aber nur für einen Monat. Seit die neue Regierung unter dem ehemaligen Weltbankmanager Aschraf Ghani in Kabul die Führung übernommen hat, ist sie nicht in der Lage, die Gehälter der Staatsbediensteten regelmäßig zu zahlen. Das macht natürlich den Präsidenten nicht glaubwürdiger, der im Wahlkampf vollmundig Gesetzlichkeit und eine neue Politik versprochen hatte. Darüber hinaus nimmt die Motivation der Staatsangestellten, vor allem der Sicherheitskräfte rapide ab und die Korruption nimmt rasant zu. Der afghanische Staat ist ohne zuverlässige Sicherheitsorgane überhaupt nicht lebensfähig. Am 4. März meldeten afghanische Medien, gestützt auf US-Quellen, übereinstimmend, dass im Jahre 2014 insgesamt 15 000 Soldaten bei der Afghanischen Nationalarmee entweder ihren Dienst quittiert oder sich einfach vom Dienst entfernt hätten. Niemand am Hindukusch wundert sich darüber. Im Gegenteil. Die Menschen haben Verständnis dafür, da die Soldaten monatelang keinen Sold bekommen und nicht wissen, womit sie ihre Familien versorgen sollen.

Statt sich um elementare Dinge zu kümmern, vergeudet die neue Administration in Kabul ihre Zeit mit kosmetischen Veränderungen. Es wurden 20 afghanische Botschafter, die durch Beziehungen zu ihrem Posten gekommen waren und keinerlei Qualifikation hatten, abberufen. Darunter befanden sich auch Familienmitglieder (ein Onkel) des ehemaligen Kabuler Präsidenten Hamid Karsai. Ob die neuen Botschafter besser sein werden, ist sehr unwahrscheinlich. 40 Prozent der afghanischen Botschafter, die abberufen wurden, kehrten nicht nach Afghanistan zurück.

Auch mehr als sechs Monate nach der Amtsübernahme von Aschraf Ghani ist das Kabinett immer noch nicht arbeitsfähig. Es fehlen 18 Minister, 31 Gouverneure, der Präsident der Zentralbank und 23 Botschafter, meldeten die afghanischen TV-Sender am 10. März. Der Kampf um die Postenverteilung innerhalb der „Regierung der nationalen Einheit“, wie die Koalition von Aschraf Ghani und Abdullah genannt wird, ist immer noch nicht zu Ende. Die Administration ist faktisch arbeitsunfähig. Auf der Plenarsitzung des Parlaments in Kabul stellte ein Abgeordneter am 16. März sogar fest, dass Afghanistan überhaupt keine Regierung hätte. Ein anderer, sehr aufgeregter Parlamentarier, forderte seine Kollegen dazu auf, keine Bestechungsgelder von den angehenden Ministern anzunehmen, die im Abgeordnetenhaus um Vertrauen bitten. Ansonsten würde er deren Namen öffentlich bekanntgeben. Die Unfähigkeit der Kabuler Administration kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass komplette Distriktverwaltungen, fast vor den Toren Kabuls wie z. B. „Maidan-Wardag“ und „Tschake-Wardag“ geschlossen sind.

Die Wirtschaft leidet unter diesem politischen Vakuum. Die Investoren beschweren sich, von den Banken keine Kredite zu bekommen. Die Arbeitslosigkeit nimmt weiter zu. Wer kann, verlässt das Land, vor allem junge Menschen. Sie sehen für sich am Hindukusch keine Perspektive, obwohl sie zum größten Teil Hochschulabschluss haben. Auf meine Frage, ob sie sich vorstellen können, was sie im Ausland als Flüchtlinge erwartet, antworteten meine Gesprächspartner energisch, „Schlechter als hier würde es uns nicht gehen“. Doch, es gibt inter­essante und lukrative Stellen, die wie auf dem Basar gehandelt werden. Wer am meisten Dollar bezahlt, bekommt den gewünschten Posten. Mein Bruder hätte schon längst verrentet werden sollen. Als er gut schmierte, wurde er zunächst Filialleiter seiner Bank und inzwischen sogar Generaldirektor. Der Kabuler Präsident Aschraf Ghani hat Ahmad Zia Masud, den ehemaligen ersten Vizepräsidenten unter Hamid Karsai zu seinem Beauftragten für gute Regierungsführung ernannt. Masud ist in seiner Amtsperiode auf dem internationalen Flughafen in Dubai mit 50 Millionen Dollar in seinem Koffer festgenommen worden. Daher eignet er sich so gut für sein neues Amt, wie der Bock zum Gärtner taugt.

Die Kriegsgewinnler gegen den Frieden

Die neue Regierung unter Aschraf Ghani beabsichtigt, die „Friedensverhandlungen“ mit den Taliban unter Berücksichtigung der strategischen Inter­essen Pakistans voranzutreiben. Die Warlords und andere Kriegsgewinnler meldeten sich sofort zu Wort und polemisierten gegen Pakistan und die Regierung in Kabul. Am 10. März 2015 erhoben Fazel Hadi Muslimyar, Präsident des Senats, der Warlord und amtierende Gouverneur, genannt „König von Balkh“, und selbsternannte General Atta Mohammad Noor sowie der ehemalige Kabuler Präsident Hamid Karsai und einige Parlamentarier den Anspruch, über die Verhandlungen vollständig informiert und sogar daran beteiligt zu werden. Schon am 8. März warnte der Warlord und Kriegsverbrecher mit guten Verbindungen zum internationalen Terrorismus, Abdul Raab Rasul Sayyaf, die Regierung vor Zugeständnissen an Pakistan. Aschraf Ghani betet das inzwischen nach. Eine eigene Konzeption hat er nicht. Da es so klar ist wie die Sonne, dass es ohne Pakistan niemals einen Frieden in Afghanistan, zumindest nicht mit den Taliban, geben kann, muss die politische Klasse am Hindukusch, wenn sie überhaupt Frieden will, eine Tatsache berücksichtigen: Ob es uns Afghanen gefällt oder nicht, Pakistan war, ist und bleibt eine Schlüsselfigur bei der Lösung bzw. Nichtlösung des Konfliktes in und um Afghanistan! Diese Realität muss sich jeder Politiker in Kabul hinter seine Ohren schreiben. Wer versucht uns vorzumachen, man könne den Afghanistan-Konflikt ohne Pakistan lösen, ist entweder naiv oder ein Betrüger.

Unsere Freunde, die Verbrecher

Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) wirft Nato-Verbündeten am Hindukusch, darunter auch Politikern und Amtsträgern, Verbrechen vor. Sie werden beschuldigt, Folter, Verstümmelungen und Morde begangen zu haben. Die Beschuldigten sind wichtige Nato-Verbündete, stellte HRW fest. Namen von acht hochrangigen Politikern und Amtsträgern werden in dem zwölfseitigen Bericht „Heute sollen wir alle sterben“ der Menschenrechtsorganisation dokumentiert. Nach Angaben von HRW haben diese engsten Verbündeten der Nato-Truppen am Hindukusch schwere Menschrechtsverletzungen begangen. Folgende Beispiele werden aufgeführt:

  • In der nordafghanischen Provinz Kundus sollen die Milizen Zivilisten ermordet und illegal Steuern eingetrieben haben. Mir Alam, ein ehemaliger Extremisten-Anführer, soll dafür verantwortlich sein.
  • Der ehemalige Geheimdienstchef Asadullah Chalid, ein Parteifreund von Abdullah Abdullah und des Gouverneurs der Provinz Balkh, General Atta Mohammed Noor, wird beschuldigt, bei einer Reihe von Verbrechen wie Folter, Mord und Vergewaltigung von Frauen und Mädchen Beihilfe geleistet zu haben.
  • Der Gouverneur Atta Mohammed Noor soll ein Netzwerk von Milizen unterhalten haben, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. HRW bezieht sich auf einen vertraulichen Nato-Bericht aus dem Jahr 2011. Wegen der Veröffentlichung des Berichtes von HRW attackierte dieser in seiner Rede zum afghanischen Neujahr am 21. März, das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ sehr scharf.
  • Im Hauptgefängnis in der US-Besatzungszone Kandahar soll der Polizeichef Abdul Rasik, ein wichtiger Verbündeter der USA, Gefangene gefoltert haben. Dem Polizeichef wirft HRW außer Folter auch Verstümmelung und Tötungsdelikte vor.

Der Bericht basiert auf 125 Interviews, die die HRW-Mitarbeiter überwiegend in Afghanistan unter anderem mit Opfern, deren Familien, Zeugen, Regierungsvertretern, Journalisten, Menschenrechtlern, UNO-Mitarbeitern und afghanischen und internationalen Sicherheitskräften geführt hatten.

Für ihre Vergehen würden die Beschuldigten nicht bestraft, es gebe keine Ermittlungen, die Opfer würden keine Gerechtigkeit erfahren, kritisieren die HRW-Menschenrechtler.[4] Der ehemalige Kabuler Präsident Hamid Karsai war weder gewillt noch in der Lage, die Täter vor Gericht zu bringen. Der derzeitige Präsident Aschraf Ghani wird nicht anders handeln. Die Entourage von Atta Mohammad Noor sammelt inzwischen Unterschriften zu seiner Entlastung. „Der Fuchs präsentiert seinen Schwanz als Zeuge“, sagt ein afghanisches Sprichwort.

Schmerzhaft, aber wahr

Am 30. März trat ich, körperlich und psychisch angeschlagen, meine Rückreise aus einer Region an, die geprägt ist durch Krieg, öffentliche und häusliche Gewalt, besonders gegen Frauen, Entführungen, politische Stagnation, ökonomische Krisen, Arbeitslosigkeit, Resignation und Hoffnungslosigkeit. Die gesamte Administration auf allen Ebenen ist durch und durch korrupt und verlogen. Die Mehrheit der Bevölkerung sehnt sich nach Frieden, der weiter entfernt ist denn je zuvor. Es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür, dass sich an dieser Situation mittelfristig etwas ändern könnte. Zusammengenommen sind das die Faktoren, die die Menschen dort zermürben. Sie haben noch keine Kraft, gegen diese unerträgliche Situation aufzustehen. Aber irgendwann wird auch dort das Fass überlaufen.

 

[1] Aschraf Ghani hat sich den Zunamen „Ahmadsai“ aus opportunistischen Gründen während des Präsidentschaftswahlkampfes 2014 gegeben, um die Stimmen des Stammes „Ahmadsai“ zu bekommen. Inzwischen wird er wieder nur noch Aschraf Ghani genannt.

[2] Wir schämen uns Afghanen zu sein, sagten mir zahlreiche Landsleute.

[3] Ulumi war bis 1992 General der prosowjetischen Regierung und gehörte der sog. Partscham-Fraktion der Demokratischen Volkspartei Afghanistan (DVPA) unter der Führung von Babrak Karmal, später von Nadschibullah an.

[4] Vgl. dpa und Spiegel Online, 4.3.2015

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"Gewalt, politische Stagnation, ökonomische Krise, Resignation und Hoffnungslosigkeit", UZ vom 25. September 2015



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