Es gibt diese Krimis, bei denen denkt man, das hätte auch etwas straffer erzählt werden können. Nur um dann festzustellen, dass man vor lauter Mitfiebern vergessen hat, die Badewanne zu verlassen, und seit ’ner Stunde im langsam kühlen Wasser vor sich hin schrumpelt. Solche Krimis schreibt Sara Paretsky.
Ihre Heldin V. I. Warshawski – Vic für ihre Freundinnen und Freunde – wühlt sich darin als Privatermittlerin durch die Abgründe Chicagos. Paretsky nutzt ihre Figur und deren Ermittlungsarbeit stets dazu, ein Bild der USA der Gegenwart zu zeichnen und den sprichwörtlichen Finger in die vielen offenen Wunden des Staates zu legen, der sich für den großartigsten der Welt hält.
In „Entsorgt“, dem fünften im Hamburger Ariadne-Verlag erschienenen Fall von Vic Warshawski, ist Chicago gezeichnet von der katastrophalen Corona-Politik der US-Regierung. Angst und Misstrauen sind groß, und auch an Warshawski geht die Pandemie nicht spurlos vorüber. Ihr Liebster sitzt seit einem Jahr in Europa fest, trotz Impfung hat sie Angst, sich selbst, aber vor allem die älteren Freunde in ihrer Wahlfamilie anzustecken. Und so erinnern wir uns mit Paretsky und ihrer Protagonistin an die Zeit der Pandemie und an unser eigenes irrationales Verhalten während Corona: oder gibt es jemanden, der sich davon freisprechen kann, Ansteckungsgefahr eher bei unsympathischen Menschen vermutet zu haben?

Doch die Pandemie ist nur die Hintergrundmusik zu Warshawskis neuem Fall. Sie nimmt sich einer kleinen Synagoge an, die Opfer von Vandalen geworden ist. Doch noch bevor sie ihre Fühler richtig ausstrecken kann, findet sie in den Felsen am Ufer des Lake Michigan ein junges, halbverhungertes und verletztes Teenagermädchen. Bevor Warshawski mit ihr sprechen oder ihre Identität festgestellt werden kann, verschwindet sie aus dem Krankenhaus. Offensichtlich ist sie auf der Flucht vor gefährlichen Verfolgern, die keine Skrupel kennen. Doch warum jagen die Männer das Mädchen? Und was hat das alles mit einer halb verfallenen Villa auf Goose Island zu tun? Steckt die Baumafia dahinter? Und welche Rolle spielt das private Pflegeheim, in dem Demenzkranke sich selbst überlassen werden und in dem selbst die absoluten Mindeststandards der Pflege ignoriert werden, seit durch die Pandemie die Kontrolle durch Besucher aus dem Familien- und Freundeskreis fehlt? Zudem führt eine Spur in die Chicagoer South Side, das heruntergekommene Arbeiterviertel, aus dem auch Warshawski kommt. Ein Ort, an dem man zusammenhält gegen Bullen und andere Schnüffler. Und so ist Warshawski nicht nur mit ihrem Fall, sondern auch mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.
Wie gewohnt ist Sara Paretsky, die in den 1980er Jahren maßgeblich dazu beigetragen hat, dass der Kriminalroman nicht nur von harten Kerlen, sondern auch von starken Frauen bevölkert wird, dann besonders stark, wenn sie Unrecht anprangert.
Dieses Unrecht hat in „Entsorgt“ viele Facetten: ein katastrophales Gesundheitssystem, überforderte Pflegekräfte, von denen viele in ständiger Angst vor der Einwanderungsbehörde ohne Sprachkenntnisse für immer höhere Profite ausgebeutet werden, Korruption und Menschenverachtung auf dem Wohnungsmarkt – und Polizeigewalt.
Der ist Warshawski ausgesetzt, dem Täter kann man nicht am Zeug flicken, viele Anzeigen liegen gegen ihn vor, nie hat eine Konsequenzen. Er ist geschützt von Korpsgeist, Polizeigewerkschaft und Politik. Und Paretsky macht deutlich, dass sie sich diese Gewalt nicht der guten Story wegen ausdenkt. Denn, so schreibt Herausgeberin und Übersetzerin Else Laudan im Vorwort, „bei Sara Paretsky hat noch das allerkleinste Detail einen sauber recherchierten Hintergrund, ist jedes Verbrechen eins, das tatsächlich geschieht“. Und so heult Warshawski nicht vor Wut auf, wenn sie verprügelt und wenn ungerechtfertigt in ihre Wohnung eingedrungen wird, sondern sie verweist auf Breonna Taylor, die 26-jährige Rettungssanitäterin, die 2020 von der Polizei in ihrer Wohnung erschossen wurde. Die Polizisten, die in die Wohnung eindrangen, hatten einen Durchsuchungsbeschluss, der es ihnen explizit erlaubte, sich nicht als Polizisten zu erkennen zu geben. Breonnas Freund vermutete einen gewaltsamen Einbruch, eröffnete das Feuer und verletzte einen Polizisten am Bein. Breonna wurde von acht Kugeln durchlöchert. Der Durchsuchungsbeschluss beruhte auf gefälschten Dokumenten. Paretsky beschreibt auch das berüchtigte „Homan Square“, offiziell ein hermetisch abgeriegelter Bau, in dem die Abteilung für Beweismaterial und Fundsachen sitzt. Nach Recherchen des Journalisten Spencer Ackerman ist es ein städtisches „Äquivalent zu einer CIA-Geheimdiensteinrichtung“. Warshawski, die dorthin verschleppt wird, nennt es eine spezielle Verhöreinrichtung – ein „Euphemismus für Folter, den wir alle von den US-Einsätzen im Irak kennen“.
Dabei geht es in der Geschichte immer munter weiter – Hinweis reiht sich an Hinweis, viele von ihnen weisen in unterschiedliche Richtungen und man fragt sich, wie das alles am Ende zusammenkommen soll. Das stört aber ebenso wenig wie die obligatorische Figur, die vor dem Kommunismus fliehen musste, die auch in diesem Roman wieder vorkommt. Ergänzt wird „Entsorgt“ durch ein Glossar der Herausgeberin, das es auch weniger USA-kundigen Leserinnen und Lesern ermöglicht, die Dinge in das große politische Ganze einzuordnen.
Am Ende des Buches fragt man sich, wie Warshawski es bloß aushält, wieder und wieder gegen die gleichen Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Wir werden es erfahren. Der nächste Band erscheint im Frühjahr bei Ariadne.
Sara Paretsky
Entsorgt
Ariadne Verlag, 471 Seiten, 25 Euro
Erhältlich im UZ-Shop