Berlinale-Sieger „Alcarràs“ jetzt im Kino

In der Festival-Falle?

Mit drei Totalen in klassischer Manier führt Regisseurin und Drehbuchautorin Clara Simón uns an den Ort der Handlung, nach Alcarràs, einem kleinen Nest in Katalonien. Es ist zugleich ihr Filmtitel und der Ort, an dem sie aufwuchs,und somit sind wir ohne Umschweife in Ort und Zeit ihrer Erinnerung: unter drei johlenden und schreienden Kindern im Wrack eines aufgehängten 2CV, das ihrer Phantasie als Flugzeug und Weltraumrakete dient. Beschwingtheit und Laune, mit denen diese Szene inszeniert ist, verraten sofort: Hier genießt Clara Simón die Freude der Erinnerung an die eigene Jugendzeit.

Deutlich schwächer scheint ihr Engagement beim zweiten, dem eigentlichen Hauptthema von „Alcarràs“. Im weiteren Verlauf des fast zweistündigen Films geht es nämlich um die große Pfirsichplantage der kinderreichen Familie Solé, die um den Erhalt ihrer Lebensgrundlage kämpfen muss. Der alte Patriarch Quimet (Jordi Pujol Ducet) versteht die Welt nicht mehr: Vor Jahrzehnten hat er vom Verpächter das Land bekommen als Dank dafür, dass er ihm als „Großgrundbesitzer“ in den Wirren des Bürgerkriegs das Leben rettete. Nun schert sich dessen Sohn nicht mehr um das gegebene Wort, weil er dort einen rentableren Solarpark anlegen will. So ist sie halt, die junge Generation mit ihrem Profitstreben, pardon: ihrem Öko- und Fortschrittsglauben …

Da wäre nun der Punkt, an dem Simóns Film seinen Standort finden, sich positionieren könnte in den lokalen Machtkämpfen, im politischen Streit. Etwa in der Frage, wie in Quimets Betrieb die zahlreichen schwarzen Erntehelfer behandelt werden. Wir sehen sie zwar kurz, doch nur wie seltsame Figuren, die dem wilden Toben der Solé-Kinder in der Plantage nutzlos im Wege sind. Wie sie wohnen, wie und ob sie entlohnt werden, dafür interessieren sich Simón und ihr Koautor Arnau Vilaró nicht. Ebenso wenig, ob der alte Quimet mit seiner Position vielleicht den ökologischen Zug der Zeit verpasst hat, wie ihm sein Schwiegersohn Cisco vorwirft. Den Protestzug von empörten Obstfarmern, die ihre Ernte aus Protest massenhaft vor die Türen der Entscheider karren, spult der Film ab wie ein thematisch vorgegebenes, lästiges Ritual.

Das wäre ja Politik und die ist bei Festivaljurys selten beliebt. Die mögen eher Filme mit kessen kleinen Mädchen. Solchen wie Laia Artigas aus Simóns erstem Spielfilm „Fridas Sommer“, die 2017 die Herzen der Berlinale-Juroren im Flug eroberte. Der auf ein jugendliches Publikum angelegte Film, richtiger: seine junge Hauptdarstellerin Laia Artigas, gewann nicht nur seine Startsektion Kplus, sondern sogar den Goldenen Bären – und in der Folge einen wahren Preissegen weltweit. „Alcarràs“, wie sein Vorgänger stark autobiografisch geprägt, wieder mit einem TV-Jungstar besetzt (Ainet Jounou aus der TV-Show „Preguntes freqüents“), startete mit dem „Rückenwind“ von 2017 in diesem Jahr im Berlinale-Wettbewerb quasi schon als logischer Favorit und gewann in allerdings schwacher Konkurrenz erneut den „Goldenen Bären“. Einen ähnlichen Preissegen wie für „Fridas Sommer“ hat man diesmal nicht vermeldet. Die eigenen Jugenderinnerungen sind zwar oft ein guter Kino-stoff, für bleibende Kinofilme braucht es aber mehr und vor allem intensiveren Blick über den eigenen Tellerrand.


Alcarràs – Die letzte Ernte
Regie: Carla Simón
Im Kino


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Über den Autor

Hans-Günther Dicks (Jahrgang 1941), Mathematiklehrer mit Berufsverbot, arbeitet seit 1968 als freier Film- und Medienkritiker für Zeitungen und Fachzeitschriften, für die UZ seit Jahrzehnten.

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"In der Festival-Falle?", UZ vom 12. August 2022



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