„Wir werden keine faulen Kompromisse machen!“

In Gießen regiert eine Kommunistin mit

Die DKP ist mit der Stadtverordneten Martina Lennartz Teil der „Gießener Linken“ und Mitglied der neuen Regierungskoalition in der Stadt. Das hat zu Aufregungen in den Reihen der bürgerlichen Parteien und zu einer entsprechenden Berichterstattung der lokalen Medien vor Ort geführt.

UZ: Welche Wellen sind auf euch zugeschwappt?

Martina Lennartz: In der letzten Wahlperiode saßen wir mit zwei Genossen der DKP mit den Gießener Linken in der Opposition. Da gab es zwar punktuell Kritik, aber keine Welle.

Jetzt allerdings werden die Grünen und SPD heftig beispielsweise von der Jungen Union kritisiert, wie man mit „Verfassungsfeinden“ und „Antisemiten“ gemeinsame Sache machen könne. Möller, ein Reporter der „Gießener Allgemeine“, nennt die DKP in einem Artikel – nicht in einem Kommentar – vom 6. Juli „linksextrem und verfassungsfeindlich“. Die FDP warf der neuen Koalition „eklatantes Versagen des demokratischen Immunsystems durch SPD und Grüne“ vor.

Die Kritik ist absurd, denn niemand kämpft so entschlossen für die Einhaltung der Verfassungsrechte und gegen alte und neue Nazis wie die DKP. Viele auch von den bürgerlichen Kreisen geehrte jüdische Antifaschistinnen und Antifaschisten waren oder sind Mitglieder der DKP, wir erinnern an Emil Carlebach, Peter Gingold oder an Esther Bejarano.

Wir haben aber auch eine Menge Solidarität erfahren. An den Infoständen führen wir spannende und unterstützende Gespräche mit viel Zuspruch und bekommen solidarische Mails. Mit dem Fraktionsvorsitzenden und stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Partei „Die Linke“, Ali Al Dailami, habe ich ein Interview mit der Tageszeitung „Gießener Anzeiger“ geführt und wir konnten ausführlich gemeinsam Stellung zu der Hetze beziehen und Argumente entkräften.

UZ: Wer stellt die Regierungskoalition in Gießen?

Martina Lennartz: In der Regierungskoalition sind die Grünen mit 16, die SPD mit 10 und das Wahlbündnis „Gießer Linke“ mit fünf Sitzen. In diesem Bündnis sind Mitglieder der Partei „Die Linke“, das „Linke Bündnis“ und die DKP. Somit hat die Koalition 31 der insgesamt 59 Sitze im Stadtparlament und meine Stimme wird bei manchen Abstimmungen eine besondere Bedeutung bekommen, wenn Stadtverordnete der Koalitionspartner verhindert oder erkrankt sind.

UZ: Der Stehsatz „Parlamentarier seien nur ihrem Gewissen verpflichtet“ hat in anderen Parteien dazu geführt, dass häufig Fraktionen ein Eigenleben führen. Wie handhabt das die DKP vor Ort?

Martina Lennartz: Das ist natürlich bei uns anders. Mein Gewissen im Parlament entspricht dem gemeinsamen Ziel der DKP. Vor dem Abschluss des Koalitionsvertrages haben alle unsere Mitglieder den Entwurf bekommen. Dann haben wir Ali zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung eingeladen, um die Inhalte gemeinsam zu diskutieren. Die DKP Gießen hat den Vertrag akzeptiert und ihr weiteres Verhalten in ihrer neuen Rolle festgelegt: Die Grundorganisation bekommt die Unterlagen vor jeder Stadtverordnetenversammlung, wir haben einen kommunalpolitischen Arbeitskreis ins Leben gerufen und alle wichtigen Anträge und Anfragen werden kollektiv diskutiert und darüber entschieden.

UZ: Die DKP hat es sich sicherlich nicht leicht gemacht, „Regierungsverantwortung“ zu übernehmen. Warum habt ihr euch dafür entschieden?

Martina Lennartz: Vor allen Dingen geht es uns um die Menschen in Gießen, um mehr Wohnraum, mehr Kindergartenplätze, mehr Freizeitangebote für Jugendliche und um bessere Ausstattungen an den Schulen. Wir wollen um den Erhalt und Ausbau sozialer Errungenschaften kämpfen, für den Verzicht auf Gebührenerhöhung und Straßenbeiträge, bessere Finanzausstattung der Kommunen, Rekommunalisierung, kostenfreier ÖPNV und vieles mehr. Dabei können wir gemeinsam mit den Menschen die Forderungen von der Straße ins Parlament tragen und anschließend draußen berichten, was drinnen passiert, also Widersprüche des bürgerlichen Parlaments aufzeigen und für mehr Transparenz sorgen.

Dafür verwenden wir seit 50 Jahren unsere kommunistische Kleinzeitung, das bekannte „Gießener Echo“. Wir streben eine enge Verbindung von parlamentarischer Präsenz mit außerparlamentarischen Aktionen an. Diese aktuelle öffentliche Präsenz wollen wir auch für den anstehenden Bundeswahlkampf nutzen. Wir werden versuchen, Anträge zu formulieren, die wir für richtig halten, und werden dann sehen, ob die Koalition sie mitträgt. Wenn die Koalition natürlich Anträge stellen sollte, die unsere Partei auf keinen Fall verantworten kann, dann werde ich dagegen stimmen – wir werden keine faulen Kompromisse machen. Der Koalitionsvertrag bietet eine Menge Möglichkeiten und wir werden letzten Endes beobachten, inwiefern die Ideen auch umgesetzt werden.

UZ: Musstet ihr auch Kröten schlucken?

Martina Lennartz: Na ja, bei der Stadtverordnetenversammlung im Juli, an der es um die Jahresabschlüsse und Revisionsberichte 2017 und 2018 ging, hätte ich mich im Gegensatz zu dem Rest der Gießener Linken enthalten oder dagegen gestimmt. Selbst das Rechnungsprüfungsamt lehnte eine Zustimmung des Jahresabschlusses 2018 ab. Leider konnte ich aber an dieser Sitzung aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen.

Im Koalitionsvertrag hätten wir gerne den ÖPNV zum Nulltarif gehabt, es scheiterte an den beiden Koalitionspartnern. Immerhin konnten wir für die Gießen-Pass-Bezieher eine Reduzierung der Preise für Wochen- und Monatskarten um mehr als die Hälfte festschreiben.

Ein weiterer Erfolg war die 30-Prozent-Sozialquote, die wir durch Änderungsanträge noch in die aktuellen Bauvorhaben hineinbekommen haben. Das war das erste Mal seit über 15 Jahren, dass eine solche Quote durchgesetzt wurde. Ansonsten gab es bisher noch keine Entscheidung, die zu Kontroversen geführt hat.

UZ: In einem Interview mit eurer Lokalzeitung hast du die Frage aufgeworfen, wie der Einfluss des großen Kapitals auf die Stadtpolitik gebrochen werden kann. Wie könnte das nach deiner Meinung aussehen?

Martina Lennartz: Eine Stadtverordnetenversammlung ist die unterste „parlamentarische“ Ebene in diesem System. Der Handlungsspielraum der Kommunen im „eigenen Haus“ ist schon per Gesetz sehr gering. Die meisten Projekte können nur umgesetzt werden, wenn der politische Wille auf Landes- und Bundesebene da ist. Dadurch wird häufig nicht anhand des Bedarfs, den eine Kommune in einem Politikbereich hat, entschieden, sondern nach Gusto der gerade Regierenden oder denen, die am Lautesten in die Ohren der Regierenden rufen, und das sind in den seltensten Fällen lohnarbeitende Menschen oder solche in prekären Lebenssituationen. In den meisten Fällen sind das Lobbyisten, Arbeitgeberverbände oder Besitzende.

Im Sozialismus, dem System, für das wir kämpfen, wäre das genau umgekehrt. Es gibt bereits jetzt genügend Analysen zum Bedarf in allen Bereichen, die kommunal interessant sind, von Kitas über Krankenhäuser, Schulen, bis hin zu Infrastrukturprojekten oder beispielsweise Maßnahmen gegen den Klimawandel. Hier werden Steuermittel aber nicht nach Bedarf eingesetzt und die möglichen Maßnahmen damit nicht konsequent umgesetzt. Auf die Kommunen wird schlichtweg nicht gehört. Wir müssen also darauf aufmerksam machen, dass die Probleme, auch auf kommunaler Ebene, systemisch sind und wir als Stadtverordnete nur Symptome bekämpfen können.

Unser Schwerpunkt wird und muss weiter der außerparlamentarische Kampf sein, wir müssen die DKP stärken.

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"In Gießen regiert eine Kommunistin mit", UZ vom 20. August 2021



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