Science Fiction entschlüsselt: „Niegeschichte“ von Dietmar Dath

Kunst mit Ehrenname

Sollte es je ein Buch von Dietmar Dath geben, das sich leicht und locker, Passagen munter überspringend, weglesen und gleichsam nachvollziehen lässt: „Niegeschichte“ ist es nicht. Zehn Jahre hat der FAZ-Filmredakteur und SF-Autor an seiner wohlstrukturierten Poetologie gearbeitet. Thema ist jene Abteilung der Fantastik, die sich des eigentlich Unmöglichen über das „menschliche Erkennenkönnen“ annimmt.

Science Fiction rüttelt nach Dath nicht nur an der Trennung von abstrakter (Geistes-) und praktischer (Natur-)Wissenschaft. Sie ist als Kunst, Hegel und Marx nach, selbst erkenntnisfähig. Im Speziellen ist sie eine Kunst, „die so viel Empirie, aber auch so viel Vernunft enthält, dass man sie mit dem Ehrennamen ‚wissenschaftlich‘ loben darf“.

Nach dem Einstieg, der allein die 100-Seiten-Marke knackt, folgt ein ausführlicher Rundgang durch jene Fabrik, in der die „Kunst- und Denkmaschine“ ausgedacht, modelliert, entwickelt, verfeinert und verändert wird: Von der bürgerlichen Aufklärung, mit dem Faust-Mythos als Heldenfigur, über den vernunftbegabten Teil der Romantik, explizit „Frankenstein“-Autorin Mary Shelley, führt Dath in die SF der sich gegenseitig nicht ganz grünen Autoren Jules Verne („Robur der Sieger“) und H. G. Wells („Krieg der Welten“) ein.

Die Etablierung des Genres gelingt zwischen den Weltkriegen den US-Autoren Hugo Gernsback und John W. Campbell, vor allem als Herausgeber wegweisender Fantastik-Literaturzeitschriften, in denen nicht selten die spätere Elite des SF zuerst publizierte. Darunter Robert A. Heinlein („Stranger in a Strange Land“), den Dath neben Robotergesetzgeber Isaac Asimov („Foundation“) und Iwan Jefremow („Andromedanebel“) dem „Golden Age“, also der Klassik des Genres, zuordnet. Auch wenn Heinleins imperialistisches Weltbild wohl Inspirationsquelle für Nazi-SF wie die „Turner Diaries“ ist.
Ob es im Fortgang um die feministische Sozialistin Joanna Russ, Punk-Starmusiker David Bowie oder den zeitgenössischen chinesischen SF-Autoren Cixin Liu geht, ob um New Wave, Cyber-Punk oder Hard-SF: Daths Fokus ist weder ein plump ideologischer noch ein exklusiv literarischer oder rein westlich. Vielmehr orientiert er sich an Peter Hacks, und durch seine treffende Kritik an Hacks‘ Abscheu vor ab­strakter Kunst an Hans Heinz Holz. SF, so Dath, solle das „Mögliche und das Vorhandene zueinander in Beziehung setzen“.

„Niegeschichte“ ist nicht nur ein Faktenberg, sondern auch ein Werk der Haltung, das angenehm unaufgeregt gegen schlechte Kunst polemisiert. Etwa gegen George Lucas‘ Erfolgsprodukt „Star Wars“, ein Science-Fantasy-Werk voller inhärenter Logiklöcher, die mit Special Effects gestopft werden. Den Bombastiker Lucas parallelisiert Dath mit Richard Wagner, beide scheuen in ihren Werken den Widerspruch, beide setzen auf „Verstärker“, sprich: Was sie äußern, unterstreichen sie doppelt und dreifach, damit ja die gewünschte Wirkung beim Publikum ankommt.

Das Buch hat ein eigenes Begriffsset, das die SF-Poetik fassbar macht und beim Lesen Halt gibt zwischen den vielen mal mehr, mal weniger notwendigen Ausschweifungen: Der „Aufhebungsfunktor“, ein Hybrid aus Hegelscher Dialektik und Kategorientheorie, ermöglicht es, sich einer dem direkten menschlichen Erfahrungsbereich verfremdeten Erzählungswelt, in der das Vorkommen einer Welt ohne Klimakrise, Monster aus dem All und so weiter nicht mehr als störend empfunden wird. Ohne jedoch in Religiosität zu verfallen, da wäre SF zu Ende und Scientology wäre am Start.

Dath zitiert zustimmend Peter Hacks: „Das Theater aber nun lehrt uns wissen, indem es in uns Gefühle aufregt, die wir hätten, wenn wir wüssten.“ Was wäre, wenn wir wüssten, wie der Mars kultiviert werden kann?

Die materialistische Tatsache, dass man eigentlich nichts denken kann, von dem man nicht weiß (weil es ist), setzt Dath den krassesten Angriff der SF auf das eingeschränkte Vorstellungsvermögen und damit auch den entschiedensten Bruch mit dem realistischen Erzählen entgegen: Den „Tau-Null-Standpunkt“, angelehnt an den Roman „Tau Zero“ des Autors Poul Anderson aus dem Jahr 1971, in dem ein Raumschiff den real wie erzählerisch bis dato am weitesten gesteckten menschlichen Horizont verlässt: das Universum.

Die Ferne dieses Grenzübertritts verweist bewusst darauf, wie weit die Strecken sind, die Science Fiction gehen kann, um wegzukommen von der Vorstellung, nichts wäre vorstellbar als rein das, was wirklich da ist. Der Geschichte dieser Bewusstlosig- und Engstirnigkeit setzt sich Science Fiction, setzt Dietmar Dath seine „Niegeschichte“ entgegen. Ein Studienobjekt, das nicht eingeschränkt auf ein Fachpublikum ist, jedoch Aufwand verlangt, wenn man sich ohne Neigung zur Fantastik an das Buch heranwagt. Ob man SF liebt oder nicht, der Aufwand, den das Studium von „Niegeschichte“ verlangt, ist ein lohnender. Es macht klar, wie nötig es ist, über das Bestehende hinaus zu denken, um das Mögliche in Betracht zu ziehen.


Dietmar Dath
Niegeschichte
Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine
Matthes & Seitz, Berlin 2019,
942 Seiten, 38 Euro
(eBook: 25,99 Euro)

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Kunst mit Ehrenname", UZ vom 14. Februar 2020



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