Ein Roman gegen die Kinderarbeit

Mit Mut, Witz und Mohr

Das Ende des Jahres steht vor der Tür und mit ihm die leicht merkwürdig anmutenden Rituale der christlichen Welt: Kindergeburtstag mit Gans, Tannenbaum im Wohnzimmer, nicht näher definiertem Mann in Rot oder wahlweise Kind im Nachthemd. Aber – egal wie merkwürdig das Drumherum bei näherer Betrachtung wirkt – gegen einige Weihnachtsrituale haben wir nichts: Gutes Essen, guter Wein, Geschenke … Nur – was soll es sein, verpackt unterm Baum? An dieser Stelle stellen wir in den kommenden Wochen Bücher vor, die Großeltern, Freunde, Tanten und andere Menschen den Heranwachsenden in ihrem Leben schenken können. Von Vor- bis Selber-Lesen, aber immer zum Selber-Denken. Und nicht unbedingt nur für Heranwachsende.

Joe und Becky Kling machen einen Ausflug aufs Land und sind begeistert von der schönen Natur und der guten Luft. Was wie ein idyllischer Roman anfängt, ist aber keiner. Denn Betty und Joe sind Kinder der Arbeiterklasse Londons und leben mit ihrer Familie in der Mitte des 19. Jahrhunderts in schlimmsten Verhältnissen. Den Ausflug macht Betty nur, um für die Verkäuferin, bei der sie gegen Kost und Logis angestellt ist, Champignons zu besorgen, ihr Bruder, der unter Asthma leidet, soll sich wenigstens einen Tag lang von den Nachtschichten in der Textilfabrik erholen können. Der Schreck ist groß, als die beiden feststellen, dass sie zu spät dran sind, um es noch bis zum Beginn von Joes Nachtschicht zurückzuschaffen. Das Fabriktor wird pünktlich abgeschlossen, Lohnabzug droht – oder Schlimmeres.

Auf dem Rückweg nach London treffen sie zwei Männer, feine Herren allem Anschein nach. Der eine wird als „General“ angesprochen, „an dem anderen fiel zuerst das bräunliche, von mächtigem Haupt- und Barthaar umrahmte Gesicht auf. Seine Hand hielt eine fast zu Ende gerauchte Zigarre. Auch er trug die Kleidung der Bürger jener Zeit, einen dunklen Gehrock, der ihm für seine dreiunddreißig Jahre ein recht würdiges Aussehen gab.“ Die zerlumpten Kinder haben zunächst Angst vor ihnen, allzu oft mussten sie schon feststellen, dass sie keine Rechte zu haben scheinen, wenn solche Gestalten in der Nähe sind. Doch der bärtige Mann, der mit ihnen den Pferdebus besteigt, ist anders, er verteidigt sie sogar gegen die Bürgersfrau, die sich über das „Gesindel“ im Bus beschwert: „Gesindel, verehrte Bürgerin, sind Leute, die nichts tun und nur von der Arbeit anderer Leben. Diese Kinder aber, das kann jeder sehen, der nicht blind ist, arbeiten schon wie Erwachsene, obwohl Kinder eigentlich spielen sollten.“ Die Kinder können es kaum fassen: „Der schwarzbärtige Fremde hatte sich auf ihre Seite gestellt. Wer mochte er sein?“

Der Mann heißt Karl Marx, seine Freunde nennen ihn Mohr und er lebt mit seiner Familie im Londoner Exil.

Nicht nur die Kinder haben in Mohr einen Verbündeten gefunden, auch Marx ist froh über die Bekanntschaft. Könnten die Kinder ihm dabei helfen, wenigstens die schlimmsten Auswüchse der Kinderarbeit endlich zu beseitigen?

Unterstützt von Mohr, aber auch von seinem Bruder Billie, der sich der Ausbeutung entzogen hat und eine Verbrecherbande in den Docks anführt, lehnt sich Joe gegen die Arbeitsbedingungen in der Fabrik auf. Als ein Ballen Spitze verschwindet, werden Joe und seine hochschwangere Mutter, die in der Fabrik als Spitzenklöpplerin arbeitet, des Diebstahls beschuldigt. Kann Marx ihnen helfen?

Vilmos und Ilse Korn haben mit dem bereits 1962 erschienen und 1969 erfolgreich von der DEFA verfilmten Roman „Mohr und die Raben von London“ ein Buch über Kinderarbeit und Lebensverhältnisse in den Zeiten der Industrialisierung geschrieben, das sich auch heute noch für Kinder zu lesen lohnt. Da der Roman aber auch in seiner Neuauflage im Eulenspiegel-Verlag sprachlich nicht aktualisiert wurde, verlangt er schon geübtere Leserinnen und Leser. Wenn sie sich an das Buch heranwagen, werden sie aber nicht nur etwas über Not und Ausbeutung der arbeitenden Klasse in England erfahren, sondern auch über Solidarität, Widerstand und die Erfüllung, die einem der Kampf für Gerechtigkeit bringen kann. Zudem lernen die jungen Leserinnen und Leser nicht nur Karl Marx und seine Familie kennen, ihr Schicksal in Exil und Armut, sondern auch Menschen wie Friedrich Engels, Lenchen Demuth und Wilhelm Liebknecht. Wer sich im Alter ab 10 Jahren der Herausforderung der 400 Seiten stellt, wird belohnt werden.


Vilmos und Ilse Korn
Mohr und die Raben von London
Ein Karl-Marx-Roman
Eulenspiegel Kinderbuchverlag, 408 Seiten, 9,99 Euro
Erhältlich unter uzshop.de


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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Mit Mut, Witz und Mohr", UZ vom 23. Dezember 2022



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