Seekriegsmanöver „Northern Coasts 2023“ wird aus Rostock gesteuert. Meere und Handelswege rücken in den Fokus

NATO probt Feindfahrt

Nicht nur zu Lande und in der Luft, auch auf den Meeren jagt eine NATO-Kriegsübung die nächste. Drei Monate nach dem Ende des Ostsee-Großmanövers „Baltic Operations“ (BALTOPS), an dem 50 Kriegsschiffe, über 45 Flugzeuge und 6.000 Soldatinnen und Soldaten unter Beweis stellen sollten, „dass die maritime Bereitschaft der NATO stärker ist als je zuvor“ (Manöver-Kommuniqué), gehen seit dem 9. September über 3.200 Seeleute und Marineflieger aus 14 Ländern auf Gefechtsstation.

30 Kriegsschiffe und zwei Dutzend Luftfahrzeuge simulieren in bedrohlicher Nähe zur russischen Küste vor Kaliningrad unter Realbedingungen zahlreiche taktische Schritte des Seekriegs, dabei ist auch „der amphibische Angriff auf Ziele an Land“, wie die Zeitung „Die Zeit“ zu berichten weiß. Die schwedische Marine, für deren NATO-Beitritt noch die Unterschrift des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aussteht, hatte wenige Tage vor „Northern Coasts“ durch ein gemeinsames Manöver mit den US-Marines den NATO-Feinschliff erhalten. Der Kommandeur des 1. schwedischen Marineregiments, Oberst Adam Camel, zog am 14. September in der US-Militärpostille „Stars and Stripes“ das Fazit der neuen NATO-Glückseligkeit: „Wir werden besser und tödlicher.“

Der Führungsstab des seit 2007 jährlich abgehaltenen Manövers „Nor­thern Coasts“ sitzt im neueingerichteten Führungszentrum der Bundesmarine in der Rostocker Hansekaserne. In Kriegs – und Krisenzeiten soll das Führungszentrum als zukünftiges maritimes Hauptquartier (German Maritime Forces Staff, NATO-Kennung „DEU MARFOR“) für den Ostseeraum fungieren. Nach den Weichenstellungen des NATO-Gipfels in Vilnius, die auf weltweite präventive Aktionen innerhalb kürzester Zeit gegen „alle Bedrohungen, egal woher sie kommen – 360-Grad-Ansatz“ (Kommuniqué von Vilnius, 11. Juli 2023) orientierten, rückt für die NATO die Beherrschung der Weltmeere und die Kontrolle der Schiffshandelswege in der Agenda nach oben. Beredter Ausdruck hiervon ist das neue Strategiepapier der Bundesmarine „Zielbild Marine 2035+“, das seit März im Umlauf ist. Seit dem 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Scholz den militaristischen Geist aus der Flasche gelassen hat, kennen auch die Verfasser der Bundeswehr-Strategiepapiere keine Zurückhaltung mehr. „Worauf es nun ankommt: Die Marine muss bereit für intensive Gefechte werden.“

Kein Kriegseifer ohne Forderung nach mehr und besserem Material für künftige Seeschlachten: Vom 100-Milliarden-Aufrüstungssondervermögen entfielen auf die Marine 19,4 Milliarden Euro. Die Auftragsbücher der Marineausrüster sind übervoll. Deutschlands führende Kriegswerft Thyssen­Krupp Marine Systems (TKMS) begann am Dienstag letzter Woche mit dem Bau von sechs U-Booten des Typs „212CD“ (Stückpreis circa 900 Millionen Euro, technische Besonderheit: leise Feindfahrt), sechs weitere sollen folgen. Blohm+Voss baut in zweistelliger Stückzahl Fregatten und Korvetten, auch der US-Rüstungsgigant Boeing freut sich über frische Aufträge: Die Marine hat Bedarf für acht Seefernaufklärer vom Typ P8 A Poseidon angemeldet.

Kriseninterventionen, räumlich beschränkte Auslandseinsätze – diese Einsatzformen gehören der Vergangenheit an, genauso wie die Rückkopplung militärischer Missionen an UNO-Mandate. Die kriegerische Auseinandersetzung mit den in den Strategiepapieren offen benannten Feinden China und Russland, verharmlosend „umfassende Bündnisverteidigung“ genannt, soll dem imperialistischen Militärbündnis neues Leben einhauchen. Auf der „Nationalen Maritimen Konferenz“ in der vergangenen Woche in Bremen feierte sich die Bundesmarine als „flexibles Instrument deutscher Außenpolitik“. Was damit gemeint ist, wird man im Frühjahr 2024 besichtigen können. Dann üben Land-, See- und Luftstreitkräfte in Deutschland und der Ostsee im größten NATO-Kriegsspiel seit 30 Jahren den Kampf gegen das imaginäre Militärbündnis „Occasus“ (lat. Verderben). Bei der Namensgebung mag den NATO-Strategen die Fantasie ausgehen, dass der Feind immer im Osten steht, bleibt gleich.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"NATO probt Feindfahrt", UZ vom 22. September 2023



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