Wie die offiziellen UN-Ermittler Assad einen Sarin-Angriff angehängt haben

Nicht überzeugend

Von Manfred Ziegler

Ich bin nicht überzeugt“, erklärte der damalige Außenminister Fischer auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2003 zu den Vorwürfen, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen. Er tat es nicht aus eigener Überzeugung. Millionen Menschen demonstrierten damals weltweit gegen den Krieg und drängten Fischer zu seinem zaghaften Ausruf. Sie wussten: Die Massenvernichtungswaffen waren – eine Lüge.

Ganz anders beim Krieg um Syrien. Der Einsatz von Chemiewaffen hat die Geschichte dieses Krieges wesentlich mitbestimmt, weil ihr Einsatz das Ausland mobilisiert – gegen die syrische Regierung. Die Regierungen des Westens waren von vornherein einig: Eingesetzt wurden chemische Waffen von den syrischen Streitkräften. Und dieser Konsens reicht weit über die Regierungen hinaus bis in die Reihen der Friedensbewegung und der Linken. Gegen den Aufruf zum „Regime Change“ wäre ein „Nicht überzeugt“ lange Zeit fast ein Akt des Widerstandes gewesen.

Internationale Aufmerksamkeit erregten Chemiewaffen in Syrien auch am 4. April 2017, als in Khan Sheikhoun bei einem Angriff bis zu 100 Menschen durch Sarin getötet wurden. Die USA bombardierten in der Folge den Flughafen, der Ausgangspunkt des Angriffs gewesen sein soll.

Der Chemiewaffeneinsatz vom 4. April 2017 wurde vielfach untersucht. Die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) entsandte eine „Fact Finding Mission“ (FFM), der „Joint Investigative Mechanism“ (JIM), der gemeinsame Untersuchungsausschuss von OPCW und UN, sollte später nicht nur weitere Fakten ermitteln, sondern auch einen Schuldigen finden. Seymour Hersh, Robert Parry, Scott Ritter und Theodore Postol widersprachen dem Grundkonsens. Die ersten beiden sind erfahrene Journalisten, die beiden anderen sind ausgewiesene Experten. Sie meinen: Es war ein von Dschihadisten inszenierter Vorfall. Doch vor mehr als einem Jahr übermittelte JIM den offiziellen und autoritativen Abschlussbericht an den UN-Generalsekretär, der das Geschehen vom 4. April 2017 klärte. Das Urteil über die Syrische Arabische Republik: Schuldig!

Der Angriff

Das Geschehen, das in einem Einsatz von chemischen Kampfstoffen endete, begann mit einer Offensive der terroristischen Organisation Hayat Tahrir al-Sham (HTS) aus Idlib in Richtung Hama. Die syrische Armee hatte nach einigen Tagen die Kontrolle über die Gebiete zurückerlangt, die sie zunächst an HTS verloren hatte, und war tief in die Gebiete der Dschihadisten vorgedrungen. Zur gleichen Zeit schien sich die US-Regierung von den Dschihadisten abzuwenden und sich mit Assad als syrischem Präsidenten abzufinden, wie Seymour Hersh beschreibt. Mehrere Vertreter der US-Regierung erklärten zu dieser Zeit sinngemäß, die USA würden „Realitäten“ akzeptieren müssen. Die Dschihadisten standen mit dem Rücken zur Wand. Hersh berichtet von seinen Quellen, dass nach ihren Informationen ein Treffen hochrangiger Militärführer der Dschihadisten in Khan Sheikoun nach einem Ausweg aus der verzweifelten Situation suchte. War ein inszenierter Angriff mit Chemiewaffen dieser Ausweg?

Der 4. April 2017 war ein gewöhnlicher Tag in Khan Sheikoun. Das Wetter war klar, der Wind wehte mäßig. Das begünstigte den Einsatz von chemischen Kampfstoffen. Es gab Verletzte und Tote, die Verletzten wurden in eines von fünf Krankenhäusern in Khan Sheikoun aufgenommen. Andere kamen in Krankenhäuser in 30 bzw. 125 Kilometern Entfernung.

Die ersten Opfer des Chemieangriffs wurden gegen 6 Uhr früh in Krankenhäuser aufgenommen. Das Flugzeug mit seiner tödlichen Fracht stand da noch auf der Rollbahn. In mindestens 57 Fällen wurden Patienten als Opfer eines Chemiewaffenangriffs in ein Krankenhaus eingeliefert, bevor der Angriff überhaupt stattgefunden hatte. So beschreibt es JIM in dem Bericht an den UN-Generalsekretär. Und fragt: War es inszeniert oder dokumentierten die Krankenhäuser im Chaos des Ansturms eine falsche Zeit? Die Antwort: Das ist gleichgültig und wir prüfen das nicht weiter.

Die OPCW prüfte auch etwas anderes nicht weiter. Da das Sarin nur sehr langsam in seiner Wirkung nachlässt, ist die Behandlung von Vergiftungen mit derartigen Kampfstoffen außerordentlich schwierig. Nicht in Khan Sheikoun. Als nach vier Tagen die ersten Beobachter der FFM in türkischen Krankenhäusern eintrafen, mussten sie überrascht feststellen: Die meisten Verletzten hatten das Krankenhaus bereits verlassen. Genau genommen wurden bis zu zwei Drittel der Patienten bereits nach einer Stunde wieder entlassen. Wie man dem Bericht der FFM entnehmen kann, hatte ein Krankenhaus in Idlib dokumentiert: 50 von 75 Patienten wurden schon nach einer Stunde heimgeschickt.

Und was war mit den Schwerverletzten, die mit Sarin-Vergiftung noch nach vier Tagen in einem türkischen Krankenhaus lagen? Die Blutproben von drei der Verletzten zeigten: Sie waren Sarin nicht ausgesetzt. War das Ganze also Teil des Versuchs, die Bedeutung des Vorfalls zu übertreiben, wie JIM an einer anderen Stelle fragt – und nicht beantwortet?

Auch die Zahl der Toten ist nicht wirklich bekannt. Die FFM sammelte medizinische Unterlagen, Sterbeurkunden und ähnliches im gesamten Norden Syriens, wie es in ihrem Bericht heißt. Hilfreich waren dabei sogenannte NGOs wie die „Syria Civil Defense“, besser bekannt unter dem Namen Weißhelme.

Was auch immer man über die Weißhelme sagen mag, eines sind sie mit Sicherheit nicht: eine NGO. Schließlich wurden bzw. werden sie von einer Vielzahl von Regierungen von NATO-Staaten finanziert. Auch die deutsche Regierung ist mit Millionenbeträgen dabei.

So gab die OPCW den Weißhelmen die Möglichkeit „im gesamten Norden Syriens“ Sterbeurkunden zu sammeln – und womöglich zu übertreiben.

Wir wollen keineswegs die Bedeutung des Vorfalls herunterspielen. Vielmehr müssen wir uns fragen: Welchen Hinweis auf die eingesetzte Waffe gibt es, wenn drei von zehn Erkrankten keinem Sarin ausgesetzt waren und zwei Drittel der Patienten umgehend aus dem Krankenhaus entlassen werden?

Das Flugzeug

Wie gelangte das Gift nach Khan Sheikoun? Die Fact Finding Mission der OPCW fand keinen materiellen Hinweis auf irgendeinen Mechanismus, der das Sarin freigesetzt hätte. Der Joint Investigative Mechanism fand auch keine „Bombenreste“, meinte aber, dass eine Bombe, die von einem Flugzeug abgeworfen wurde, die gefundenen Fakten am besten erkläre. Deshalb ging JIM im Detail der Frage nach, ob ein Flugzeug Khan Sheikoun angegriffen habe. Zeugen wurden benannt, Videos diskutiert, Aufzeichnungen gesammelt, alles sehr akribisch und professionell.

Radaraufzeichnungen sahen ein Flugzeug in fünf Kilometer Entfernung, ein syrischer Pilot erklärte, er habe sich Kahn Sheikoun bis auf acht Kilometer genähert. Und ein Experte teilte mit, die richtige Höhe, Flugrichtung und Geschwindigkeit vorausgesetzt sei es möglich, aus fünf Kilometer Entfernung eine Bombe abzuwerfen und Khan Sheikoun zu treffen.

Es ist offensichtlich, dass ein Flugzeug mit der richtigen Höhe, Richtung und Geschwindigkeit eine Bombe auf ein beliebiges Ziel wird abwerfen können. Die Frage aber ist: Flog das Flugzeug in der richtigen Höhe, in die richtige Richtung und mit passender Geschwindigkeit? Dieser Frage geht JIM nicht nach.

Was also bleibt als Ergebnis all dieser Diskussionen? Die FFM fand keine Bombe und JIM kein Flugzeug: „Der Mechanismus hat bis heute keine spezifische Information, ob oder ob nicht eine Su-22 der syrischen Luftwaffe einen Luftangriff auf Khan Sheikoun durchgeführt hat.“

Dieser kleine Krater soll von einer angeblichen mit Sarin gefüllten Fliegerbombe stammen.

Dieser kleine Krater soll von einer angeblichen mit Sarin gefüllten Fliegerbombe stammen.

Der Krater

Es gibt den materiellen Beweis eines Angriffs: Den Krater. Aus seinen Spezifika – Tiefe, Gestalt und ähnliches – schließt JIM: Dieser Krater kann nur von einer Bombe erzeugt worden sein, die mit hoher Geschwindigkeit und geringer Sprengwirkung auftraf. Mangels anderer materieller Beweise nimmt der Krater eine zentrale Rolle in der Argumentation von JIM ein.

JIM zitiert viele Experten, die einen Bombenabwurf aus einem Flugzeug für wahrscheinlicher hielten als eine andere Ursache – obwohl kein Angriff eines Flugzeugs identifiziert wurde.

Vor allem die syrische Regierung schlug dagegen vor, dass der Krater von einem IED, einer improvisierten Bombe, erzeugt wurde, der Sprengsatz habe Sarin aus einem Behälter freigesetzt. Diese Hypothese wurde von JIM nicht als unmöglich, aber als weniger wahrscheinlich zurückgewiesen. Nach einer Reihe von Simulationen und Berechnungen meint Theodore Postol, ein Artilleriegeschoss habe den Krater erzeugt. In Computersimulationen konnte er zeigen, dass solch ein Geschoss einen Krater erzeugen würde, der die gleichen Spezifika aufweist wie der reale Krater in Khan Sheikoun. Ein Artilleriegeschoss aber bedeutet: Dschihadisten.

Das Urteil

Die FFM fand keine Bombe und JIM kein Flugzeug. Die Anzahl der Opfer ist nicht wirklich bekannt. Doch das Urteil lautet: „Die Leitung des JIM kommt zu dem Schluss, dass die Syrische Arabische Republik verantwortlich für den Angriff ist. Auffälligkeiten, die es gegeben hat, stehen dem nicht entgegen.“ Freilich wurden die Auffälligkeiten nicht untersucht.

Eine Inszenierung durch Dschihadisten, für die es eine Reihe von Indizien gibt, wird von JIM ausgeschlossen. Doch das gelingt nur, indem man Wahrscheinlichkeiten zu Gewissheiten umdeutet, unpassende Fakten ignoriert – und indem man die eigenen Vorschriften ignoriert.

Bei derartigen Untersuchungen muss die OPCW – als externer Akteur – die Kontrolle ausüben. Sie muss Zeugen auswählen, Bodenproben entnehmen und unter Kontrolle halten, Aufzeichnungen auf Echtheit und Richtigkeit prüfen. Im Falle von Khan Sheikoun geschah das nicht. Hier wurden Vertreter oder zumindest Unterstützer einer Konfliktpartei – die Weißhelme und andere Gruppen – beauftragt, Proben zu entnehmen, Dokumente zu sammeln und Zeugen zu benennen.

Der Joint Investigative Mechanism muss die Fakten übermäßig strapazieren, um zu seinem Urteil zu gelangen. So endet die Untersuchung im Nebel, gerade weil JIM und FFM sich nicht an die eigenen Vorschriften hielten. Doch es funktioniert. Bis weit in die Linke hin­ein wird das Verdikt akzeptiert.

Die Wirkung

Die Wirkung einer Untersuchung wie der des Joint Investigative Mechanism beruht natürlich in erster Linie auf dem Grundkonsens: Assad war es. Dieser Grundkonsens wird geteilt von Regierungen und einem modernen grünen Milieu, das für „Regime Change“ von außen steht und bis in die Linke und die Friedensbewegung reicht.

Die russische Delegation bei den UN lehnt die Schlussfolgerungen des JIM zu Recht ab. Doch erreicht ihre Darstellung der Fakten bei weitem nicht die Professionalität der Darstellung und Selbstdarstellung wie der Bericht des JIM.

Professionell, unparteiisch, exzellent, hingebungsvoll, entsprechend internationaler Standards – so beschreibt JIM die eigene Arbeit. Ausführlich werden Flugpfade diskutiert und erklärt, wo und wann Triebwerke von Flugzeugen zu hören waren. Aufzeichnungen von Krankenhäusern werden studiert; akribisch und von exzellenten Labors werden Boden- und Blutproben analysiert. Doch wie ein Zauberer seine Zuschauer verwirrt und vom Wesentlichen ablenkt, verbirgt dieser Aufwand den grundlegenden Fehler der Untersuchung: Dass die Kontrolle über wichtige Teile des Prozesses bei den Weißhelmen lag und nicht bei der OPCW. Die OPWC betrachtet die Weißhelme als Partnerorganisation. Und hat recht damit: Die Weißhelme werden von den Staaten finanziert, die am Regime Change arbeiteten.

Die Kontrolle über einen Teil der Untersuchung an die Weißhelme und andere Gruppen zu übergeben, die sich als NGO beschreiben und von Staaten finanziert werden, hat den Wert der Untersuchung zerstört. Im Krieg um den Regime Change gibt es keine „unpolitische“, an Fakten orientierte Untersuchung.

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"Nicht überzeugend", UZ vom 15. Februar 2019



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