Die VR China baut soziale und technologische Grundlagen des Sozialismus weiter aus

Offensive für das 21. Jahrhundert

Die VR China baut soziale und technologische Grundlagen des Sozialismus weiter aus

Westliche Medien malen seit Monaten das Schreckgespenst einer neuen Kulturrevolution in der VR China an die Wand. Was ist los in der Volksrepublik? Alles begann – zumindest aus Sicht der westlichen Journalisten – im vorigen Jahr, als die Ant Group, ein Tochterkonzern von Alibaba, an die Börse gehen wollte.
Im Oktober 2020 wurde der bekannte Milliardär und Chef des Alibaba-Konzerns, Jack Ma, zu einer Sitzung mit chinesischen Regulierern einberufen. Er hatte die Behörden als zu strikt regulierend kritisiert – sie seien zu sehr auf Risikoverringerung fixiert. Zwei Tage vor dem geplanten Börsengang seines Konzerns Ant Group, der voraussichtlich der größte der Geschichte gewesen wäre, sagte die Shanghaier Börse diesen ab, da es „erhebliche Probleme“ gebe. Das kam für die westliche Finanzwelt völlig unerwartet. Die Regierung verkündete eine neue Richtlinie, die den Aufsichtsbehörden umfangreichere Eingriffe in große Privatunternehmen ermöglichte.

Mindestens 50 weitere behördliche Maßnahmen gegen eine ganze Palette chinesischer Unternehmen sollen erfolgt sein, berichtete das „Neue Deutschland (ND)“. Im Fokus standen zunächst Tech-Unternehmen, die auch im Finanzsektor aktiv sind. Die Ant Group verdächtigte man schon länger, faktisch wie eine Bank zu handeln, obwohl das Unternehmen nicht als solche angemeldet war.

Antimonopolistische ­Maßnahmen

Es folgten weitere Schritte gegen die Ant Group. Im Dezember wurde sie von der chinesischen Zentralbank angewiesen, ihre Geschäfte zu „berechtigen“, damit sie den gesetzlichen Vorgaben exakt entsprechen. Im April dieses Jahres verhängten – wie die „Frankfurter Allgemeine“ berichtete – chinesische Behörden eine Strafe von umgerechnet 2,3 Milliarden Euro gegen das Unternehmen – dieses habe seine marktbeherrschende Position ausgenutzt, um gegen Firmen vorzugehen, die konkurrierende Angebote genutzt hätten. Es war die bis dato größte Strafe gegen ein chinesisches Internetunternehmen. Auch andere Internetplattformen, die eine marktbeherrschende Stellung haben, wurden wegen ähnlicher Vergehen bestraft.

Bei diesen Strafen nimmt Peking bewusst kurzfristige wirtschaftliche Schäden in Kauf. So sank der chinesische Aktienindex dramatisch. Viele westliche Analysten sind verblüfft. Gegenüber „Bloomberg“ erklärte einer: „Es ist bemerkenswert, wie wenig sie sich um das Wachstum gekümmert zu haben scheinen.“ Laut „Fortune Magazine“ habe das wirtschaftliche Wachstum der VR China bereits vor der Corona-Pandemie unter den Erwartungen gelegen, was die Autoren der Zeitschrift auf die Bestrebungen Pekings zurückführen, die Überschuldungsrisiken zu reduzieren.

Einige Kommentatoren erklären sich die chinesische Strategie mit dem Ziel, neue, radikal-innovative kleinere Unternehmen, etwa im Bereich der Robotik, fördern zu wollen. Jan Turowski, Leiter des Pekinger Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, fasst es im „ND“ so zusammen: „Es ist ein strategisches Ziel Pekings, künftige technologische Entwicklung und bahnbrechende Erfindungen nicht unter der monopolistischen Masse der Tech-Riesen zu ersticken.“ Im Westen sei man viel zu sehr auf diese Riesen fixiert, das innovative Potenzial liege aber in den zum Teil unter der Beteiligung staatlicher Unternehmen zehntausendfach gegründeten Start-ups.

Das chinesische Industrieministerium arbeitet an einem Fünfjahresplan zur gezielten Förderung des Wachstums von Klein- und Mittelunternehmen (KMU), wie „Xinhua“ berichtete. Mit dem Programm wolle man gleiche Bedingungen für alle Unternehmen und größere Finanzierungsmöglichkeiten schaffen sowie die Innovationsmöglichkeiten stärken. Ziel ist es, bis 2025 rund eine Million KMUs zu schaffen, von denen sich 100.000 laut dem zuständigen Minister durch „Spezialisierung, Verfeinerung, Einzigartigkeit sowie Innovation“ auszeichnen sollen. Als Teil des Plans soll eine Reihe von „nationalen Produktionsinnovationszentren“ geschaffen werden. Man wolle KMUs besser in Industrie- und Lieferketten integrieren.

Stärkung der ­Rechtsstaatlichkeit

Zudem verkündete Peking im August einen Fünfjahresplan zur Verbesserung der rechtsstaatsbasierten Regierung, der auf einem vorherigen Plan aufbaut. In dem Dokument wird die Verbesserung der Regierungsfähigkeiten in den Bereichen der wirtschaftlichen Regulierung, des Sozialmanagements, der öffentlichen Dienstleistungen sowie des Umweltschutzes angestrebt. Insbesondere wolle man das Kartellrecht verbessern. Die „BBC“ deutete diesen Plan als Ankündigung, dass das „Durchgreifen gegenüber den Unternehmen“ noch einige Jahre andauern werde, wobei der Großteil des Zehnpunkteplanes tatsächlich der Verbesserung der Transparenz, der Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit im Verwaltungswesen gewidmet ist. Die chinesische Regierung selbst betont, dass sich die Maßnahmen gegen „illegale Handlungen“ richten, nicht gegen den Privatsektor an sich oder Unternehmen einer bestimmten Eigentumsform. Es handle sich um „pragmatische und notwendige“ Schritte zur „gesunden Entwicklung der betroffenen Industrien“ sowie zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit.

Die Wettbewerbsbehörde verdreifachte das Personal der Antimonopol­abteilung. Man wolle Fusionen und Übernahmen, vornehmlich von Tech-Konzernen, besser überwachen. Ein hochrangiger Mitarbeiter der chinesischen Zentralbank dazu: „Die neue technologische Revolution bringt einen bislang unbekannten Trend zur Bildung von Monopolen, die die Ungleichheit erhöhen und das Wirtschaftswachstum bremsen.“

Die Regierung reichte erst jüngst einen Entwurf zur Verschärfung des Kartellrechts ein, der voraussichtlich im nächsten Jahr beschlossen wird. Die Strafen für Verstöße gegen das Kartellrecht sollen demnach zum Teil um das Zehnfache erhöht werden, auch die Zugriffsrechte der Behörden werden verstärkt. Im Gesetz werden die Wirtschaftsbereiche, die den Lebensunterhalt der Menschen, Finanzen, Technologie oder Medien betreffen, als Prioritäten für die Überwachung betrachtet. Im Gespräch mit der „South China Morning Post“ bewertete ein Rechtsdozent der Universität von Hongkong die Reform als „klares Signal der verschärften Kontrolle über Tech-Firmen“.

Ein weiterer Bereich, in dem die Behörden der Volksrepublik öffentlichkeitswirksam schärfere Regelungen durchsetzten, ist der außerschulische Bildungsbereich, wo privaten Trägern, etwa von Nachhilfeschulen, im Sommer dieses Jahres die Gewinnorientierung untersagt wurde. Zudem beschloss Peking ein Verbot für private Bildungsanbieter, Kapital durch Börsengänge einzutreiben. Auch wurde ausländischem Kapital untersagt, in den privaten Bildungssektor zu investieren. Zukünftig müssen private Bildungsträger für die Erteilung von Genehmigungen den chinesischen Lehrplan einhalten. Kurz darauf wurde privat tätigen Nachhilfelehrern verboten, im Internet oder an sonstigen nichtregistrierten Orten, etwa in Cafés, zu unterrichten. Im Juni hatte der chinesische Präsident Xi Jing­ping erklärt, dass Schüler nicht auf Nachhilfe angewiesen sein dürften.

Gemeinsamer Wohlstand

Auch im Bereich der Sozialpolitik hat Peking offenbar langfristige Pläne. Seit Jahresanfang wurden zahlreiche Maßnahmen zur Förderung des gemeinsamen Wohlstands getroffen. Diese Orientierung geht zurück auf den 18. Parteitag im Jahr 2012. Nach dem Sieg über die absolute Armut zum 100. Jahrestag der Gründung der KP Chinas in diesem Jahr gebe es in der Volksrepublik jetzt die Bedingungen, um den gemeinsamen Wohlstand zu fördern, der eine „wesentliche Voraussetzung des Sozialismus“ sei. Zur Erreichung dessen werde man Anstrengungen unternehmen, um das Verhältnis zwischen Effizienz und Gerechtigkeit richtig zu handhaben, „grundlegende institutionelle Vorkehrungen“ im Bereich der Einkommensverteilung treffen, die mittlere Einkommensgruppe vergrößern sowie die Einkommen der Niedrigverdiener verstärken. Auch werde man gegen „illegale“ Einkommen vorgehen.

Im Finanzbereich hat Peking ebenfalls die Kontrollen verschärft. Die Zentralbank wies Ende Oktober die chinesischen Banken an, zukünftig neue Standards bei ihren Geschäften anzuwenden. Ziel ist es, das chinesische Finanzsystem krisenfester zu gestalten. Größere Banken müssen ein höheres Eigenkapital aufweisen. Zudem sollen sie antizyklisch Kapitalpuffer aufbauen. Die Regulierungsbehörden gaben an, die Überwachung des chinesischen Terminmarkts zu verbessern und Spekulation zu bekämpfen. Man werde gegenüber Irregularitäten eine „Null-Toleranz“-Politik einschlagen. Zuvor hatte der chinesische Vizeministerpräsident Liu He erklärt, dass der Finanzsektor sich darauf konzentrieren müsse, der Realwirtschaft zu dienen. Gegenüber Kryptowährungen, die der staatlichen Kontrolle entzogen sind, verfolgt Peking einen noch härteren Kurs. Effektiv verbot die Regierung die Kryptowährungen, indem sie den Handel mit ihnen im September untersagte. Schon im Sommer wurden viele sogenannte Bitcoin-Farms, in denen die digitalen Währungseinheiten erzeugt werden, geschlossen; im Frühjahr wurde chinesischen Finanzinstitutionen verboten, Dienstleistungen mit Kryptowährungen zu vertreiben. Zuvor war die VR China ein wichtiges Land für die Bitcoin-Erzeugung.

Häuser sind zum Wohnen da

Auch den Wohnungsmarkt hat Peking im Visier. Ende September betonten führende Beamte nach einer gemeinsamen Sitzung der Zentralbank und der Finanzaufsichtsbehörde, dass die Finanzinstitutionen mit den Behörden zusammenarbeiten sollten, um eine gleichmäßige und gesunde Entwicklung des Wohnungsmarkts zu ermöglichen. Gemäß dem Motto von Präsident Xi, dass Häuser zum Wohnen und nicht zum Spekulieren da seien, sollen diese Institutionen eine „überlegte Verwaltung“ der Immobilienfinanzen betreiben. Wohneigentum dürfe niemals als kurzfristiger Wirtschaftsstimulus missbraucht werden. Die Institutionen müssten die legitimen Rechte und Interessen der Nutzer des Wohneigentums berücksichtigen. Ende Oktober wurde laut der Zeitung „Global Times“ angekündigt, in einer Reihe von Städten im Rahmen eines Pilotprojekts Grundsteuern einzuführen. Ziel sei es, die Spekulation mit Wohneigentum einzudämmen, den Reichtum ausgeglichener zu verteilen und gemeinsamen Wohlstand für alle zu erreichen. Die Regierung wolle die rationale Konsumption von Wohneigentum lenken und eine wirtschaftliche Nutzung von Landressourcen erreichen. Das Pilotprojekt ist zunächst auf fünf Jahre angelegt. Die Grundsteuer werde in den betroffenen Regionen auf alle Arten des Grundeigentums angewandt werden, mit der Ausnahme von ländlichen Häusern. Zuvor gab es schon ähnliche Pilotprojekte, doch bei diesen wurde die Grundsteuer nur auf Wohneigentum angewandt. Bei dem neuen Projekt sei auch staatliches Land, das für Bauprojekte vorgesehen ist, eingeschlossen. Schon seit 1987 gibt es in der Volksrepublik verschiedene Formen von Grundsteuern, zunächst vor allem für geschäftliches Eigentum. Das neue Projekt zeichnet sich vor allem durch seine Betonung des gemeinsamen Wohlstands aus.

Peking scheint mit dem durch die jüngsten Reformen Erreichten zufrieden zu sein und will offenbar diese Ausrichtung beibehalten. Ende August hatte Präsident Xi erklärt, dass die Anstrengungen der Regierung „zur Verhinderung der irrationalen Kapitalexpansion“ erste Erfolge erzielt hätten. Ein gerechter Wettbewerb sei nötig, um die sozialistische Marktwirtschaft zu verbessern und den gemeinsamen Wohlstand zu fördern. Die Partei müsse sich zudem anstrengen, die chinesischen Firmen mit klaren Regeln, effektiven Verordnungen und einer größeren Politiktransparenz „zu führen und zu beaufsichtigen“.

Die Reformen bezeugen die Durchsetzungskraft und die Regierungsfähigkeit des sozialistischen chinesischen Staates gegenüber Partikularinteressen und Tendenzen, die als nicht vereinbar mit dem Gesamtwohl eingestuft werden. Im Mittelpunkt des staatlichen Handelns steht das Wohl des Volkes statt kurzfristiger Profite von Monopolen wie im Westen. Obgleich die VR China noch ein Entwicklungsland ist und es für einige Jahrzehnte bleiben wird, zeigt der chinesische Sozialismus politische Orientierungsmöglichkeiten auf, die auch hierzulande nützlich sein werden.


Die Alibaba-Gruppe
Der Englischlehrer Jack Ma gehört zu den 18 Personen, die 1999 die Alibaba-Gruppe gründeten. Alles begann mit einer Internetseite, mit deren Hilfe Unternehmen ihren Handel untereinander abwickeln können. 2003 wurde der Konzern durch das Online-Angebot Taobao erweitert, das den Handel zwischen Privatpersonen vermittelt – ähnlich dem Angebot von eBay. Zehn Jahre nach der Gründung der Unternehmensgruppe wurde mit AliExpress eine Plattform für den Online-Handel gestartet. Wie auch andere Online-Anbieter entwickelte der Alibaba-Konzern mit Alipay seine eigene Möglichkeit der Bezahlung. Dieser Dienst ist das zentrale Angebot der Alibaba-Tochter Ant Group, die in den vergangenen Jahren immer mehr Angebote im Bereich Online-Bezahlung und Online-Finanzierung entwickelt hat.


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"Offensive für das 21. Jahrhundert", UZ vom 19. November 2021



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