„Marked“: Die progressiv ausgerichtete südafrikanische Serie verfehlt letztendlich ihr Ziel

Selbsthilfe gegen soziales Unrecht

Dennis Broe, People’s World. Übersetzt und redaktionell gekürzt von Melina Deymann

Die Netflix-Serie „Marked“ beginnt mit einem Paukenschlag: einem Überfall auf einen gepanzerten Geldtransporter aus der Perspektive der Fahrerin Babalwa, die den Räubern inmitten eines Kugelhagels entkommt. Nach dem von Netflix vorgeschriebenen 15-minütigen Auftakt, der das Publikum fesseln soll, geht es in der Serie bergauf, bis sie in den letzten Minuten ihr Genre, ihre Hauptfigur und all ihre überwiegend progressiven politischen Tendenzen verrät.

Die Serie vermittelt ein ausgeprägtes Gespür für die Unterschiede zwischen Arm und Reich in Johannesburg. Babalwas Tochter wird an Krebs sterben, weil ihre Mutter und ihr unfähiger Vater, ein Diakon der Kirche, sich die 1,2 Millionen Rand für die Operation nicht leisten können, zu denen noch Krankenhauskosten und 100.000 für den Anästhesisten hinzukommen. Die verzweifelte Mutter bittet den lokalen Gangster Baba G um Hilfe und dieser blickt auf die Ruinen und beklagt, dass man im Ghetto von Soweto Kohl isst, während man in den wohlhabenden Stadtteilen Kaviar auf dem Teller hat.

Babalwa (Lereto Mvelase, die die Figur sowohl in der Zulu- als auch in der englischen Version spricht) und ihr Mann sind gläubige Christen, aber als sie ihren Pastor um Geld und eine Spendenaktion bitten, lehnt er ab und sagt ihnen, sie sollen „einfach Vertrauen haben“. Sie geht daraufhin zu ihrem Chef in einer Firma mit dem passenden Namen Iron Heart und bittet ihn, ihr das Geld zu leihen. Wütend schreit sie ihn an und gestikuliert in seinem luxuriösen Büro: „Jeden Tag riskiere ich mein Leben für dich, damit du so leben kannst.“

Die Fahrerin beweist in vielerlei Hinsicht ihren Einfallsreichtum und ihre Genialität: Nachdem Baba G getötet wurde, tut sie sich mit seinem unehelichen Sohn zusammen, re­krutiert Gemeindemitglieder als ihre Bande, darunter eine verschuldete Shoppingsüchtige mit einer Vorliebe für neue Kleidung, und verhindert auf geniale Weise, dass ihr Partner aus dem gepanzerten Auto die Schuld für den Raubüberfall auf sich nimmt. Schließlich beschließt sie, ihren untätigen Ehemann für ihren verständnisvolleren Partner zu verlassen: „Ich habe mein ganzes Leben lang rechtschaffen gelebt und was hat es mir gebracht?“

In letzter Zeit hat sich ein Wandel im Genre „Überfall-Film“ vollzogen: früher kamen alle Diebe tragisch ums Leben oder landeten im Gefängnis („The Asphalt Jungle“, „Rififi“, „The Lavendar Hill Mob“), aber in zeitgenössischen Filmen kommt einer oder kommen mehrere der Diebe mit der Beute davon. Da die Zeiten härter und rauer werden und die Ungleichheit zunimmt, deuten diese Varianten des Genres darauf hin, dass das Publikum eher daran interessiert ist, mit denen mitzufiebern, die die Reichen ausrauben, als sich an das alte Sprichwort „Verbrechen lohnt sich nicht“ zu halten.

Leider verrät „Marked“ am Ende sowohl seine entschlossene afrikanische Hauptdarstellerin als auch sein Publikum. Mit einem kleinen Taschenspielertrick, einem skurrilen Moment, in dem eine Figur eine komplette Verwandlung durchmacht, die völlig untypisch für sie ist, einer Intervention, die weniger göttlich als Deus ex machina ist, kehrt die Serie in ihren letzten Augenblicken ihre Polarität. Plötzlich präsentiert sie einen Akt des Glaubens, der die Heldin nicht als unabhängig und bereit erscheinen lässt, alles zu riskieren, um ihr Kind zu retten, sondern als jemand, dem es an Glauben mangelt. Das Ende brandmarkt sie als jemanden, der eine Grenze überschritten hat, der zu weit gegangen ist, auch wenn ihr Ziel darin bestand, das Leben ihrer Tochter zu retten, das ebenso sehr durch ein teures Gesundheitssystem bedroht war wie durch den Krebs, der ihren Körper zerstört.

Es gibt einige mögliche kommerzielle Erklärungen sowohl für die offen politische Ausrichtung des Großteils der Serie als auch für das konservative Ende. Netflix ist nicht mehr – wenn es das jemals war – in dem Geschäft, wie sein ehemaliger CEO sagt, „um der Macht die Wahrheit zu sagen“, ­sondern rühmt sich mit einer Serie nach der anderen, deren Inhalt stattdessen „reine Unterhaltung“ ist. Auf jede Serie wie „Marked“ kommen fünf Serien wie „Wednesday“.

Glücklicherweise macht das letzte Fünftel der letzten Folge nicht zunichte, was ansonsten eine außergewöhnliche Action-Serie ist. Die Heldin von „Marked“ nimmt ihren Platz neben anderen Heldinnen von Raubüberfällen ein und ersetzt deren eher gewinnorientiertes Motiv – obwohl es das Ergebnis ihrer eigenen unterdrückten sozialen Umstände ist – durch die Fürsorge und das Mitgefühl einer Mutter, die ihre Kinder immer an erste Stelle setzt.

Marked
Sechs Episoden
Abrufbar auf Netflix

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"Selbsthilfe gegen soziales Unrecht", UZ vom 5. September 2025



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