Das Verfahren gegen die „Chicago 7“

The whole world is watching

Vom 26. bis 29. August 1968 fand in Chicago im US-Bundesstaat Illinois der Nominierungsparteitag der Demokraten statt. Martin Luther King und Robert F. Kennedy waren gerade ermordet worden, der Krieg gegen Vietnam tobte, permanent wurden die Einberufungszahlen erhöht, jeden Abend im Fernsehen die Namen der gefallenen US-Soldaten verlesen. Mehr als 80 Prozent der Primary-Wähler der Demokraten sprachen sich für einen Präsidentschaftskandidaten aus, der gegen den Krieg war. Um dafür ein Zeichen zu setzen, reisten tausende vor allem junge Menschen nach Chicago, um dort gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Darauf reagierte die Stadt Chicago unter dem Bürgermeister Richard J. Daley mit der Mobilisierung von 6.000 Nationalgardisten, 6.000 Angehörigen der US-Streitkräfte, 1.000 Agenten des FBI und der Defense Intelligence Agency und der Versetzung sämtlicher Chicagoer Polizisten in 12-Stunden-Notstandsschichten. Der Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Polizei und Nationalgarde war damit besiegelt. Im Laufe des Wochenendes kam es immer wieder zu Prügelorgien, den Höhepunkt fand die Polizeigewalt schließlich am Mittwoch, den 28. August, mit Tränengas, der „chemischen Keule“ und Schlagstöcken, während die Demonstrantinnen und Demonstranten skandierten „The whole world is watching“ (Die ganze Welt sieht zu). Insgesamt wurden über 600 Demonstranten sowie berichtende Reporter und medizinische Ersthelfer verletzt.

Die Demokraten ließen sich von den Protesten wenig beeindrucken und nominierten mit Hubert Humphrey einen Befürworter des Vietnamkrieges. Genützt hat es ihnen nichts, US-Präsident wurde Richard Nixon, der den Vietnamkrieg auf Kambodscha und Laos ausweitete – und schließlich faktisch kapitulieren musste. Im Jahr nach den Protesten wurden acht Männer wegen Verschwörung und Aufhetzung angeklagt.

Aus dem Stoff hat Aaron Sorkin (Drehbuch und Regie) nun für Netflix einen Gerichtsthriller gemacht, der angesichts der bevorstehenden US-Wahl und dem Geschacher um die Besetzung von Richterinnenposten erschreckend aktuell ist. „The Trial of the Chicago 7“ erzählt in Rückblenden von den Geschehnissen um den Parteitag und konzentriert sich ansonsten auf die Vorbereitung der Prozessführung, die Verhandlungstage und die unterschiedlichen Ansichten der Angeklagten.

Die sind zu Beginn des Prozesses noch zu acht, das Verfahren gegen den Black-Panthers-Vorsitzenden Bobby Seale (Yahya Abdul-Mateen II) wird im Laufe des Prozesses eingestellt. Der Film geht unter die Haut, wenn gezeigt wird, wie der zutiefst rassistische Richter Julius Hoffman (Frank Langella) Seale erst fundamentale Rechte wie das auf einen Verteidiger verweigert und ihn dann, als er selbst für sich sprechen will, fesseln und knebeln lässt – und wie schockiert die weißen Angeklagten darüber sind, während Seale zu wissen schien, was auf ihn zukommt. Nach der Behandlung bleibt auch dem Vertreter der Anklage nichts anderes mehr übrig, als eine Einstellung des Verfahrens zu verlangen, zu offensichtlich ist die Rechtsbeugung durch Richter Hoffman.

Zurück bleiben die, die als „Chicago 7“ bekannt sind: Abbie Hoffman (großartig: Sacha Baron Cohen) und Jerry Rubin (fast genauso gut: Jeremy Strong) von der „Youth International Party“, den „Yippies“, Tom Hayden (Edie Redmayne) und Rennie Davis (Alex Sharp) von den „Students for a Democratic Society“, David Dellinger (John Caroll Lynch), der als Pazifist viele Anti-Vietnamkriegs-Proteste organisiert hat, und die beiden eher unbeschriebenen Blätter John Froine und Lee Weiner. Ihnen zur Seite stehen die Strafverteidiger William Kunstler (Mark Rylance) und Leonard Weinstein (die beste Nebenrolle: Ben Shenkman).

Interessant wird der Film, wenn er nicht nur den widerlichen Richter Hoffman vorführt, sondern auf die unterschiedlichen politischen Einschätzungen der Angeklagten eingeht und ihnen Raum für Debatte gibt. Richtig gut wird er, wenn Anwalt Kunstler, der den Yippie-Aktivisten erst lang und breit erklärt, es gäbe nur zwei Arten von Prozessen, zivile und strafrechtliche, dämmert, dass es sehr wohl eine dritte Variante gibt und dass er sich mittendrin befindet. In einem politischen Prozess.

Und stark wird er, wenn er emotional wird und uns in Erinnerung ruft, dass es bei allen Protesten gegen den Vietnamkrieg nicht allein um die Expansion des Imperialismus, das schweinische Einsetzen von Agent Orange, Napalm und Co., Millionen getöteter Vietnamesinnen und Vietnamesen gegangen ist, sondern auch um die Arbeiterklasse-Jungs, die der US-Imperialismus für seine Ziele tausendfach hat über die Klinge springen lassen:

Am Ende des Prozesses wird den Angeklagten zugestanden, dass sich einer für die gesamte Gruppe äußern darf. Die Gruppe wählte Tom Hayden aus, um für sie zu sprechen. Vom Richter ermahnt, sich kurz und reuevoll zu äußern, verliest Hayden die Namen der 4.752 US-Soldaten, die während der 151 Prozesstage in Vietnam getötet wurden. Viele von ihnen wurden noch nicht einmal 20 Jahre alt.

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"The whole world is watching", UZ vom 30. Oktober 2020



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