Verschärfungen von Repressionsgesetzen und Strafprozessordnung stehen für den reaktionären Staatsumbau

Vom Störer zum Gefährder

Onlinedurchsuchung, Präventivhaft, Body-Cams, Drohnen, Sprengmittel, Maschinengewehre in jedem Streifenwagen – die Änderungen der Polizeigesetze der 16 Bundesländer in den letzten fünf Jahren sind nicht mehr zu zählen. Die Abstände der Reformen der bundesdeutschen „Sicherheitsarchitektur“ verkürzen sich, ihr Umfang nimmt, was Bewaffnung und Ausweitung der Einsatzbefugnisse betrifft, von Mal zu Mal zu.

In Baden-Württemberg betrug die Halbwertszeit des Polizeigesetzes von 2017 gerade einmal drei Jahre, bis die „grün-schwarze“ Regierung Anfang dieses Jahres das Gesetz erneut verschärft hat. Der Staat rüstet auf, in allen Bereichen, nicht nur in der Prävention, sondern auch dort, wo es um die Verfolgung von Straftaten geht. Was im Polizeirecht gilt, gilt auch im Strafverfahren. Die Strafprozessordnung, die die Befugnisse von Staatsanwaltschaft, Gerichten und Polizei bei der Verfolgung und Aufklärung von Straftaten regelt, ist seit 1950 über 250 Mal geändert, sprich, verschärft worden. Allein 100 Gesetzesänderungen im letzten Jahrzehnt. Kennzeichen all dieser Reformen ist der Rückschnitt der Verteidigungsrechte der Beschuldigten und Angeklagten in den verschiedenen Verfahrensstadien (Ermittlungsverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverfahren und Rechtsmittelverfahren). Gerade die zentralen Reformen der Strafprozessordnung seit 2017 tragen die reaktionäre Stoßrichtung bereits in ihren Titeln.

Reaktionäre Reformen

Das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 24. August 2017 erschwerte die Richterablehnung wegen Befangenheit. Mit dem Gesetz wurden die Weichen für die Onlinedurchsuchung von Handys und Computern („Quellen-TKÜ“) gestellt, die Erscheinenspflicht für Zeugen zur Vernehmung bei der Polizei ausgeweitet und die Befugnis für die Polizei geschaffen, ohne Richtervorbehalt Blutproben anzuordnen. Darüber hinaus führte die Politik für Beweisanträge die „Fristenregelung“ ein, das bedeutet, Beweisanträge müssen innerhalb einer vom Richter gesetzten Frist gestellt werden. 2019 folgte das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“, das unter dem Mäntelchen der „Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens“ weitere Rückschnitte des Beweisantragsrechts und des Richterablehnungsrechts mit sich brachte.

Seit dem 10. Juni 2021 schließlich gibt es das „Gesetz zurFortentwicklung der Strafprozessordnung“ (Einführung der „heimlichen Beschlagnahme“, Erleichterung von Durchsuchungen zur Nachtzeit, die Ausweitung der Telefonüberwachung und der Onlinedurchsuchung und automatische massenweise Kennzeichenerfassung auf Autobahnen). Die im Strafverfahrensrecht somit ebenfalls zu verzeichnende Entwicklung zum Ausbau der Ermittlungsmaßnahmen und zum Abbau der Beschuldigtenrechte bringt es geradezu automatisch mit sich, dass auch im präventiven Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr, also den Polizeigesetzen, weitere Verschärfungen auf die Tagesordnung gesetzt werden. Kaum war der Einsatz der „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“ 2017 in der Strafprozessordnung verankert, übernahmen Länderpolizeigesetze den Datenstaubsauger auch in ihr Repertoire.

Wie lang wird es dauern, bis der 2017 für das Strafverfahren eingeführte „Bundestrojaner“ für den Präventionsbereich entdeckt wird? Die Geheimdienste haben ihn vor wenigen Wochen schon bekommen: „Zur Abwehr einer dringenden Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person,“ Die Ausstattung der Bundespolizei mit Trojanern scheiterte vor wenigen Tagen an der fehlenden Zustimmung des Bundesrats, die Bundesregierung hat aber bereits den Vermittlungsausschuss angerufen. Ist eine Maßnahme einmal in Gesetz gegossen, verbreitet sie sich auf andere Bereiche und lädt dazu ein, stetig verschärft zu werden.

Polizei wird aufgerüstet

Auf dem Gebiet des Polizeirechts manifestieren sich, bezogen auf das letzte Jahrzehnt, drei Entwicklungen: Zentralisierung und Vereinheitlichung des Polizeiapparats, Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten und Verwischung der Grenzen zwischen polizeilichem und nachrichtendienstlichem Handeln. Unmittelbar nach Schaffung des Grundgesetzes war das Polizeirecht, befördert durch die föderale Struktur der Bundesrepublik, zersplittert. Das lag auch im Sinne der alliierten Kontrollratsbeschlüsse, die eine Zentralisierung der deutschen Polizei verhindern wollten. Formell fällt die Polizei bis heute zwar in die Länderzuständigkeit, institutionell ist die Grenze allerdings aufgehoben: Bundeskriminalamt, Bundespolizei, zentral geführte Datenbanken, Innenminister- und Ministerpräsidentenkonferenz auf Bundesebene sowie der seit Jahrzehnten als Blaupause für die Polizeirechtsreformen der Länder benutzte und stets weiterentwickelte „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes“ (MEPolG) vom 25. November 1977 sorgen für die Angleichung von Bewaffnung, Einsatzvoraussetzungen und Befugnissen der Länderpolizeien.

Bürger unter Generalverdacht

Begleitet wird die Ausdehnung polizeilicher Befugnisse durch eine stetige Verlagerung in das Vorfeld „möglicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“. War vor 2017 Einsatzvoraussetzung das Vorliegen einer Gefahr, die sich bereits realisiert haben musste, und operierte das Polizeirecht insoweit mit dem „Störer“-Begriff, bestimmt heute der „Gefährder“-Begriff die Einsatzstrategie. Eine Gefahr oder „Störung“ muss noch nicht einmal ausgelöst sein, sie muss lediglich „bevorstehen“, damit ein Einschreiten gerechtfertigt ist. In jeder Polizeischulung lautet die Devise: „Wir müssen vor die Lage kommen.“ Übersetzt: Wir müssen bereits das potentiell gefahrauslösende Subjekt mit polizeilichen Maßnahmen überziehen. Das impliziert, dass Überwachungs- und Ausforschungsmaßnahmen weit vor der möglichen Gefahr abgesichert werden müssen. Faktisch heißt das: Der Bürger steht unter Generalverdacht.

Damit liegt es für die Sicherheitsarchitekten auf der Hand, dass das Trennungsgebot geschleift werden muss. Die strikte Trennung von polizeilicher und geheimdienstlicher Tätigkeit geht ebenfalls auf die alliierten Kontrollratsbeschlüsse zurück. In der Praxis ist das Trennungsgebot schon Vergangenheit. In den jüngsten Reformen zum Verfassungsschutzgesetz und dem MAD-Gesetz (Militärischer Abschirmdienst, Geheimdienst der Bundeswehr) wird der Datenaustausch ermöglicht, was bei der Vorratsdatenspeicherung für Polizei und Dienste zu einer „Win-Win“-Situation führt. Paragraf 46 im Polizeigesetz Baden-Württembergs: „Das Landeskriminalamt kann für die Dauer einer befristeten projektbezogenen Zusammenarbeit mit den Polizeidienststellen des Landes und dem Landesamt für Verfassungsschutz eine gemeinsame Datei errichten.“

Alle Maßnahmen entspringen dem „Pakt für den Rechtsstaat“, den die Bundesregierung 2017 im Koalitionsvertrag ausgerufen hat. Im diesem Zusammenhang formuliert das Bundesministerium der Justiz: „Die Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats sind nicht selbstverständlich. Zu beobachten ist, dass Rechtsstaat und Demokratie in Deutschland und Europa zunehmend unter Druck geraten.“ Also muss sich der Bock zum Gärtner machen, startet eine „Imagekampagne, um die Bedeutung unserer großartigen, funktionierenden Justiz für eine demokratische Gesellschaft sichtbar zu machen“, während sich die Böcke in den anderen Ministerien und Bundesländern daran machen, im selben Muster die demokratischen Grundrechte, wie etwa das Versammlungsrecht, zu schleifen.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"Vom Störer zum Gefährder", UZ vom 2. Juli 2021



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