Zum „Boom“ im Osten

Willkommen in der Zukunft

„In Ostdeutschland erleben wir derzeit einen Boom“, twitterte der Bundeskanzler. Anlass für die frohe Botschaft war sein Auftritt beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum in Bad Saarow, Brandenburg. Die anwesenden Kapitalvertreter lauschten Olaf Scholz andächtig und nickten verhalten. Sie wissen, was für sie das Schönste am Osten ist: die niedrigen Löhne. Das Statistische Bundesamt bezifferte im September letzten Jahres, wieviel schöner des Kanzlers „Boom“-Region im Vergleich ist. Das jährliche Durchschnittsgehalt liegt demnach in Ostdeutschland rund 12.200 Euro unter dem im Westen, im Vergleich zum Vorjahr ist die Lohnlücke damit sogar größer geworden. Die Hans-Böckler-Stiftung beziffert den Abstand auf 13,7 Prozent – bei gleichem Geschlecht, im gleichen Beruf und mit vergleichbarer Berufserfahrung.

Dass diese enorme Lohnlücke existiert, hat eine lange Vorgeschichte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl versprach für die Zeit nach der Konterrevolution „blühende Landschaften“ auf dem Gebiet des Industrielands DDR. Und tatsächlich wuchsen auf so manchem Fabrikgelände reihenweise Pusteblumen, nachdem eine De-Industrialisierung stattgefunden hatte. Für das Kapital war der neue deutsche Markt zunächst vor allem als Absatzgebiet für Überproduktion interessant.

Aber Kapital bliebe nicht Kapital, wenn es nicht auf Profit aus wäre. Die Gewerkschaften waren geschwächt, die Arbeitslosigkeit hoch, gute Bedingungen für Investitionen, die ihnen mit staatlichen Subventionen und Steuererleichterungen versüßt wurden. Und so wird der Osten gerne mit „Zukunftstechnologie“ in Verbindung gebracht – so wie die Chipfabrik von Intel in Magdeburg oder die „Gigafactory“ von Tesla in Grünheide.

Doch die Kapitalverwertung droht auch hier ins Stocken zu geraten. Kanzler Scholz spricht Probleme offen an, wenn auch sehr selektiv. Nicht die Politik seiner Bundesregierung ist schuld, wenn der „Boom“ ausbleibt. Es ist nicht die Sanktions- und Konfrontationspolitik gegen Russland, die hohe Inflation oder ein chronisch unterfinanziertes und ungerechtes Bildungssystem. Nein, es mangelt im Osten vor allem an ausbeutungsfähigem Fachpersonal. Um dieses in den Osten zu locken oder zumindest die ein oder andere zum Bleiben zu bewegen, schlägt der Kanzler den Kapitalisten vor, die Löhne dann doch ein wenig anzuheben. Da „allein mit einheimischen Arbeitskräften“ der Personalmangel nicht zu beseitigen sei, müsse man sich allerdings im Ausland umschauen.

Nein, dieser Kanzler spricht nicht von faulen Ossis, die in der DDR das Arbeiten verlernt hätten. Aber mit Blick auf die hohen Umfragewerte der AfD deutet er an, dass mangelnde „Weltoffenheit“ ein Problem sei und fordert eine „Willkommenskultur“ im Osten. Schließlich berate der Bundestag in diesen Tagen abschließend über „das wohl modernste Einwanderungsrecht der Welt“ – Anfang Juli sei die finale Abstimmung im Bundesrat geplant. Arbeits- und Fachkräfte sollen dann deutlich leichter als bisher nach Deutschland kommen können.

Und wäre es nicht zutiefst schade, wenn Heil und Baerbock ihre globale Rekrutierungsmission erfolgreich abgeschlossen hätten und „der Ossi“ mit einer Mistgabel in der einen und einer Fackel in der anderen Hand am Flughafen Heringsdorf steht und die Ingenieurin aus Brasilien für immer verschreckt, anstatt sie mit einer Blumenkette aus frisch gepflücktem Löwenzahn zu begrüßen? Dann bliebe der „Boom“ wohl aus. Und die Verbesserung und Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West? Die sind mit der AfD nicht zu haben. Um höhere Löhne gegen Kapital und Kanzler durchzusetzen, brauchen wir die ganze Klasse – keine Spaltung nach Sprachen, Grenzen oder Hautfarben.

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Über den Autor

Lars Mörking (Jahrgang 1977) ist Politikwissenschaftler. Er arbeitete nach seinem Studium in Peking und war dort Mitarbeiter der Zeitschrift „China heute“.

Mörking arbeitet seit 2011 bei der UZ, zunächst als Redakteur für „Wirtschaft & Soziales“, anschließend als Verantwortlicher für „Internationale Politik“ und zuletzt – bis Anfang 2020 – als Chefredakteur.

 

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"Willkommen in der Zukunft", UZ vom 16. Juni 2023



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