Die Bilder könnten gegensätzlicher nicht sein: In den kurdischen Bergen im Norden des Irak verbrennen Guerilla-Kämpfer der PKK vor geladenen Gästen symbolträchtig ihre Waffen als Geste der Versöhnung und Beilegung eines Jahrzehnte währenden Konflikts mit Ankara; in den türkischen Metropolen rücken derweil Staatsanwälte und Polizei der größten Oppositionspartei CHP ins Haus.
Präsident Recep Tayyip Erdogan regiert mit Zuckerbrot und Peitsche. Ungeachtet einer landesweiten Protestwelle nach der Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoglu im März verstärken die türkischen Behörden die Repression gegen die sozialdemokratisch-kemalistische Opposition. In der vergangenen Woche wurden laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu der Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Sile, Özgür Kabadayi, sowie fünf weitere Verdächtige in Gewahrsam genommen. Ihnen wird unter anderem Bestechung, Gründung einer kriminellen Vereinigung, Erpressung sowie die Manipulation von Ausschreibungen vorgeworfen.
Unter den Festgenommenen sollen auch der stellvertretende Bürgermeister des Stadtteils und mehrere Mitarbeiter der Gemeinde sein. In anderen Großstädten wurden CHP-Bürgermeister verhaftet oder ihres Amtes enthoben. Seit vergangenem Oktober sind Hunderte CHP-Mitglieder in die Mühlen der Justiz geraten. Gerade erst ließ die türkische Rundfunkbehörde den wichtigen oppositionellen türkischen Fernsehsender Sözcü TV abschalten. Die Verfolgung der CHP ist Erdogan Herzenssache. Auf seinem offiziellen Facebook-Account attackiert er die Oppositionspartei massiv, nennt sie „kriminelle Vereinigung“ und „Diebe“.
Erdogan will sich und seiner Regierungspartei AKP die Macht sichern. Aufgrund der hundsmiserablen Wirtschaftslage mit galoppierender Inflation fliegen ihm allerdings nicht die Herzen der Massen zu. Bei den landesweiten Kommunalwahlen im vergangenen Jahr hatte die von Staatsgründer Atatürk gegründete säkulare CHP überraschend deutlich vor Erdoğans islamisch-konservativer AKP gewonnen. Imamoglu gilt als ernst zu nehmender Herausforderer Erdogans. Die CHP bewertet das derzeitige Vorgehen der türkischen Behörden also zu Recht als politisch motiviert.
Die großen Proteste vom Frühjahr haben sich totgelaufen. Und auch international herrscht großes Schweigen. Kein Wort von Bundeskanzler Friedrich Merz und seinem Außenminister Johann Wadephul zur Verfolgung der CHP. Kein Wort von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihrer Außenbeauftragten Kaja Kallas, deren Fokus allein auf Moskau liegt. Kein Wort von der NATO. Im Gegenteil: Der Militärpakt lässt den autoritären türkischen Präsidenten den NATO-Gipfel 2026 in Ankara ausrichten. Auf Demokratie kommt es der NATO bekanntlich nicht an.
Die Waffenniederlegung der Kurden nahe Suleimaniya begrüßte Erdogan derweil auf der Plattform X verbunden mit der Hoffnung, der Prozess möge in einen dauerhaften Frieden münden. Die Präsidialverwaltung veröffentlichte eigens ein Bild des Staatschefs bei einem Treffen mit einer Delegation von Abgeordneten der prokurdischen DEM-Partei und Vertretern der AKP im Präsidentenpalast in Ankara.
Erstmals seit 26 Jahren konnte sich PKK-Chef Abdullah Öcalan mit einer Videobotschaft an seine Anhänger wenden. Der mittlerweile 76-Jährige ist seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer eingesperrt und isoliert. Öcalan bekräftigte erneut, einen Dialog beginnen zu wollen mit dem Ziel einer Versöhnung zwischen Kurden und Türken, zwischen PKK und Staat. Die Selbstauflösung der PKK und das Niederlegen der Waffen sollen ein Schritt in diese Richtung sein.