Der IS-Prozess in Celle

Äußerst gesprächsfreudige Angeklagte

Von Birgit Gärtner

Rund 720 Personen sind laut Behördenangaben seit 2011 von der BRD aus in den Irak, bzw. nach Syrien gereist, um sich dort dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Vermutlich 90 von ihnen überlebten dieses fragwürdige Abenteuer nicht, 230 sollen inzwischen zurückgekehrt sein, 50 davon mit Kampf­erfahrung. Von den insgesamt mehr als 700 ausgereisten Personen sind zirka 10 Prozent weiblich, davon wiederum 40 Prozent jünger als 25 Jahre, jede 6. von ihnen ist minderjährig.

Laut Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz (VS) lebten etwa 60 der jungen Männer vor ihrer Ausreise in Hamburg, knapp halb so viel in Schleswig-Holstein, und 20 im niedersächsischen Wolfsburg, das sich den Ruf „IS-Hochburg“ erworben hat. Sieben der aus Wolfsburg Ausgereisten sind im „Heiligen Krieg“ gefallen, zwei müssen sich jetzt vor dem Oberlandesgericht Celle wegen § 129b, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, verantworten. Ihnen drohen bis zu 10 Jahren Haft.

Ayoub B. (27) und Ebrahim B. (26), sind nicht die ersten zurückgekehrten Gotteskrieger, die vor Gericht stehen. Aber sie sind die ersten, die mit den hiesigen Behörden kooperieren und sich auch beim Prozess äußerst gesprächsfreudig zeigen. Ayoub B. hat sich direkt nach seiner Wiedereinreise noch am Flughafen Hannover der Polizei gestellt.

Vor seiner Abreise arbeitete er bei VW in Wolfsburg. Eigentlich habe er seinen Urlaub in Tunesien verbringen und dort heiraten wollen, schreiben verschiedene Medien. Überraschend habe er die Auszeit vorgezogen und sich auf den Weg gemacht. Allerdings nicht nach Tunesien, getrieben von Sehnsucht nach seiner Liebsten, sondern zum IS, um dort den

Lieber gefeiert als gebetet

Koran zu studieren, wie er jenen Medien gegenüber betonte. Eigentlich habe er nicht als besonders religiös gegolten, bis er den IS-Anwerber Yassin O. traf und – wie er sagte – dessen Charisma erlegen sei. Eigentlich habe er sich keine Illusionen über den IS gemacht, glaubte aber an die Möglichkeit, dort in Ruhe und Frieden religiösen Studien nachgehen zu können. Oder wollte es glauben.

Vor etwa einem Jahr kehrte er aus Syrien zurück, fünf Monate später wurde er verhaftet und unter Anklage gestellt. Ihm wird vorgeworfen, von Mai bis August 2014 in einem IS-Lager in Syrien ausgebildet worden zu sein, Tote und Verletzte vom Schlachtfeld geborgen und Kämpfer für den IS geworben zu haben.

Die Eltern von Ebrahim B. sind wie der Vater von Ayrup B. aus Tunesien eingewandert. Beide Väter arbeiten bei VW in Wolfsburg. Ebrahim B. ist ausgebildeter Massagetherapeut, und mit Religion hatte auch er eigenen Angaben zufolge nichts am Hut, er hat lieber gefeiert als gebetet. Bis er vor zwei Jahren auf Anwerber O. traf, den der Mitangeklagte Ayrup B. als „charismatisch“ beschreibt. Auch Ebrahim B. erliegt diesem Charisma, vermutlich weil er zu dem Zeitpunkt eine schwere Zeit durchlebt und im Glauben und in der Gemeinschaft Halt findet. Als O. ihm noch schnelle Autos und vier Ehefrauen versprach, war Ebrahim B. bereit, sich auf den Weg nach Syrien zu machen. Wenngleich auch ihm eigenen Angaben zufolge völlig fern lag, Kampfhandlungen zu begehen.

Die Realität in Syrien war ernüchternd. Das schilderten beide unabhängig voneinander. Statt Ruhe, Besinnlichkeit und Koran-Studien oder gar schnellen Autos und willigen Ehefrauen wurden sie demnach ideologisch und militärisch auf den Krieg gedrillt, und schließlich vor die Wahl gestellt, entweder Kämpfer oder Selbstmordattentäter zu werden.

Deshalb flohen beide – ebenfalls unabhängig voneinander. Ihre Erfahrungen wollen sie nun weitergeben, und potentielle IS-Kandidaten vor der harten Realität warnen. Ihnen genau die Tatsachen zu schildern, die von Anwerbern wie Yassin O. gern verschwiegen werden.

Die Behörden sind mit der Verhinderung der Ausreise von IS-Sympathisanten offenbar komplett überfordert. Obwohl Reisepässe und seit diesem Jahr auch Personalausweise von potentiell Gefährdeten eingezogen werden können, geht die Ausreise munter weiter: 20 Männer, deren Reisepass eingezogen worden war, konnten trotzdem verschwinden. Der Vermutung nach sind sie nach Syrien ausgereist – zwei Männer aus Hessen sogar trotz elektronischer Fußfessel. Die Anzahl derer, deren Reisedokumente von den Behörden einkassiert wurden, scheint beträchtlich: allein in Hamburg wurde bislang 19 Männern der Pass entzogen.

Der IS-Prozess in Celle ist aufgrund der zu erwartenden Informationen ein Medienereignis. Ein Medium ist allerdings inzwischen ausgeschlossen: Bild.de. Das Gericht entzog die Akkreditierung, nachdem Bild.de die beiden Angeklagten unverpixelt gezeigt hatte. Julian Reichelt, Chefredakteur von Bild.de, beschwerte sich in sozialen Netzwerken im Internet, sie seien vom Prozess ausgeschlossen worden, „weil wir die Terroristen gezeigt haben“. Das Gebot der Unschuldsvermutung, das auch für Ayrup B. Und Ebrahim B. gilt, und aufgrund dessen sie dann als „Terroristen“ tituliert werden können, wenn sie rechtskräftig als solche verurteilt sind, hat sich bis in die Bild-Redaktion offensichtlich noch nicht rumgesprochen …

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"Äußerst gesprächsfreudige Angeklagte", UZ vom 14. August 2015



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