Die Regierung und ihre Medien feierten 30 Jahre Konterrevolution

Alles so schön bunt hier

Wie in jedem Jahr seit 1990 diente auch dieser 3. Oktober dazu, das Misstrauen der herrschenden Klasse gegenüber der Bevölkerung des geschluckten Beitrittsgebiets zu demonstrieren. Die Angestellten der Herrschenden aus Politik und Medien gaben sich einmal mehr erstaunt, wie wenige Ostdeutsche reich oder in Führungspositionen sind. Selbstverständlich wissen sie genau, woran das liegt, und achten streng darauf, dass es so bleibt. In Anschlussgebieten muss das so sein. Deswegen steht seit 30 Jahren auch mindestens einmal täglich in der Zeitung, dass die Ostdeutschen vom realen Sozialismus verseucht sind – und vom Faschismus.

Marietta Slomka hätte im „heute journal“ am 3. Oktober noch „stundenlang“ mit Joachim Gauck plaudern können. Der Zögling eines fanatischen Nazionkels, der bereits im August 1931 NSDAP-Mitglied wurde – früher als seine Mutter (1932) und sein Vater (1934) –, erzählte gemütlich von den „zwei Diktaturen“, von denen „die“ Ostdeutschen geprägt worden seien. Mehrmals spricht er von einer Million Menschen, die nach 1990 weggegangen seien. Tatsächlich waren es mehr als fünf Millionen. Aber mit der Wahrheit nimmt man es am Einheitstag nicht so genau und auch das „Warum?“ ist uninteressant.

Der halluzinierende Kriegsprediger passt hervorragend zu den Eigentumsverhältnissen, die er nach 1990 in Ostdeutschland mit einrichten half. Die herrschende Klasse ist ganz zufrieden mit dem Osten. Solange sich Unmut in Gestalt von Pegida-Latschern oder satten Wahlergebnissen für die AfD äußern, sind die Sorgen klein. Frei herumlaufende Nazis plus verwirrtem Anhang sind schließlich ein Teil der Freiheit. Die wären bedroht, wenn die verbliebene ostdeutsche Arbeiterklasse sich links organisierte.
Die „FAZ“ fasste die Sicht der Führungskräfte in großen Lettern witzelnd zusammen: „Nicht immer einig. Aber immer eins.“

Letzteres, der Anschluss, ist wichtig. Das andere, Meinungsverschiedenheiten, ist gratis. Daher darf auch gelogen werden was dasZeug hält. „30 Jahre Miteinander in Frieden und Freiheit“ haute die Tagesschau-Sprecherin zur Feier des Tages raus. Kosovo, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Mali – war da was? Mehr Ausgaben für Rüstung als für Bildung und Gesundheit zusammen, wie „Die Linke“ am 2. Oktober im Bundestag vorrechnete. Ostdeutsche Jugendliche laufen in Scharen zum Bund, werden zu Kanonenfutter, weil sie keine andere Perspektive sehen. Aber deutsche Kriege gehören nicht auf den Einheitsfeiertag.

Wo so frisiert wird, fällt kaum ins Gewicht, wenn die „NZZ“ den DDR-Schriftsteller Franz Fühmann posthum zum Komponisten macht und die „FAZ“ den Sender „DT 64“ zu „FT 64“. Details aus dem Osten waren schon immer unwichtig. Und eine Schlagzeile wie in der „Welt am Sonntag“: „Das Ossi-Schwein, das musste weg“, hat nichts mit einem Ausraster in der Redaktion zu tun, sondern mit der DDR-Schweinerasse Leicoma – benannt nach den Bezirken Leipzig, Cottbus und Magdeburg. Die will ein Holländer jetzt wieder in Sachsen-Anhalt züchten. Die Schlagzeile aber sagt die Wahrheit.

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"Alles so schön bunt hier", UZ vom 9. Oktober 2020



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