Das gilt auch für die Kommunisten, meint Reiner Kotulla aus Sonneberg

Am Marktsozialismus scheiden sich die Geister

Reiner Kotulla

Wir wissen, dass das Neue im Alten wächst und dass das Alte im Neuen verharrt. Wie lange es dort noch wirkt, ist auch vom jeweiligen Entwicklungsstand der Produktivkräfte im jeweiligen Land abhängig.

Walter Ulbricht definierte den Sozialismus als eine lang andauernde, eigenständige gesellschaftliche Formation. Sie beginnt nach erfolgreicher Revolution mit der Übernahme der politischen Macht durch die revolutionäre Arbeiterklasse in Form der Diktatur des Proletariats.

Stirbt der Markt sofort nach der Machtübernahme? Nein, er stirbt nicht sogleich. Dazu sagen unsere chinesischen Genossen:

„Die Entwicklung und Vervollkommnung des sozialistischen Systems stellt einen langen historischen Prozess dar.“

„China befindet sich jetzt im Anfangsstadium des Sozialismus und wird sich über eine längere Zeit in diesem Stadium befinden. Das ist ein unüberschreitbares historisches Stadium bei der sozialistischen Modernisierung im wirtschaftlich und kulturell rückständigen China, das mehr als einhundert Jahre in Anspruch nehmen wird.“

Weiter heißt es im Programm der KPCh dazu:

„Das Festhalten an der Reform und Öffnung ist unser Weg zur Stärkung des Landes. Wir müssen das Wirtschaftssystem, das die Entwicklung der Produktivkräfte behindert, von Grund auf reformieren und an dem sozialistischen Marktwirtschaftssystem festhalten und es vervollständigen. Dementsprechend müssen wir die Reform der politischen Struktur und die Reform auf anderen Gebieten durchführen. Die Öffnung umfasst die allseitige Öffnung nach außen und nach innen. Wir müssen den wirtschaftlichen und technischen Austausch und die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit mit anderen Ländern ausbauen, noch mehr und noch besser auswärtige Geldmittel, Ressourcen und Technologien nutzen und alle von der menschlichen Gesellschaft geschaffenen Zivilisationserrungenschaften einschließlich aller fortschrittlichen Bewirtschaftungsformen und Managementmethoden der entwickelten Länder im Westen, die die Gesetzmäßigkeiten der modernen vergesellschafteten Produktion verkörpern, absorbieren und ausnutzen. Bei der Reform und Öffnung müssen wir kühn forschen und uns wagemutig in der Praxis neue Wege bahnen.“

Diese Fragen stellten sich auch den Kommunisten der jungen Sowjetunion und wurden von Josef Stalin am Ende der 1920er Jahre so beantwortet:

„Die NÖP ist die Politik der proletarischen Diktatur, die gerichtet ist auf die Überwindung der kapitalistischen Elemente und den Aufbau der sozialistischen Wirtschaft durch Ausnutzung des Marktes vermittels des Marktes. (…) Können die kapitalistischen Länder, zumindest die entwickeltesten von ihnen, beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne die NÖP auskommen? Ich denke, sie können das nicht. In diesem oder jenem Grad ist die Neue Ökonomische Politik mit ihren Marktbeziehungen und der Ausnutzung dieser Marktbeziehungen in der Periode der Diktatur des Proletariats für jedes kapitalistische Land absolut unerlässlich. (…) Hieraus aber folgt, dass die NÖP in allen Ländern eine unvermeidliche Phase der sozialistischen Revolution bildet. (…) Der Fehler Bucharins besteht hier darin, dass er nicht sieht, dass die NÖP zwei Seiten hat, er sieht nur die eine Seite der NÖP. (…) Aber Bucharin irrt sich, wenn er annimmt, dass dies. Seite der Sache die NÖP erschöpft. Bucharin vergisst, dass die NÖP noch eine andere Seite hat. Die Sache ist die, dass die NÖP durchaus nicht volle Freiheit des privaten Handels, freies Spiel der Preise auf dem Markt bedeutet. NÖP heißt Freiheit des privaten Handels in bestimmten Grenzen, einem bestimmten Rahmen bei Gewährleistung der regulierenden Rolle des Staates auf dem Markt. Darin gerade besteht die zweite Seite der NÖP. Dabei ist dies. Seite der NÖP für uns von größerer Wichtigkeit als ihre erste Seite. Wir haben auf dem Markt kein freies Spiel der Preise, wie es gewöhnlich in den kapitalistischen Ländern der Fall ist. Wir bestimmen im Wesentlichen die Preise. (…) Daraus folgt, dass, solange die NÖP besteht, ihre beiden Seiten gewahrt bleiben müssen. (…) Man hebe eine dieser Seiten auf – und man wird keine Neue Ökonomische Politik mehr haben.“

Es bleibt zu hoffen, dass es den Genossen in China gelingt, durch die zeitgemäße Anwendung der politischen Mittel der Diktatur des Proletariats und des demokratischen Zentralismus den „kapitalistischen Tiger“ im Zaum zu halten.

Im Programm unserer Partei finden die erwähnten Mittel keinen konkreten Niederschlag. Das hat auch historische Gründe. Auch wenn wir uns heute in Deutschland in keiner revolutionären Situation befinden, erscheint es ratsam, diese Fragen nicht aus den Augen zu verlieren.

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"Am Marktsozialismus scheiden sich die Geister", UZ vom 10. November 2023



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