Fortsetzung der China-Debatte

Sozialismus mit der Bourgeoisie – geht das?

Für die China-Debatte hat uns Hans Heinz Holz in seinem „Topos“-Heft zu China als Vermächtnis hinterlassen: „Wir lernen von anderen Weltsichten nur dann, wenn wir vermeiden, unsere vorgefassten Meinungen und Erwartungen oder unsere kulturspezifischen Denkmuster in sie hineinzutragen.“ Dies vorweg als Erinnerung daran, dass bei Auseinandersetzung und Urteilen über China (und generell andere Länder und Völker) vor allem Respekt und Bescheidenheit angebracht sind. Und dass zuerst chinesische Stimmen zu hören und ernst zu nehmen sind angesichts der bei uns gegebenen Meinungsmache von Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) über Thinktanks wie etwa dem „Merics Insitute“, den bürgerlichen Medien bis hin zu den Lautsprechern in der deutschen Politik.

Das Topos-Heft aus dem Jahr 2001 mit Texten von Rolf Berthold, Eike Kopf, Domenico Losurdo und schließlich von Hans Heinz Holz erinnert auch daran, dass die Debatte um China unter Marxisten in- und außerhalb der DKP nicht erst seit gestern läuft und eine Festlegung, wie auf dem Parteitag geschehen, längst überfällig war.

Die Fragestellungen, die damals und heute immer wieder auftauchen, ähneln sich: Weshalb musste China einen anderen Weg gehen als die anderen sozialistischen Länder (und als den von Karl Marx und Friedrich Engels erwarteten Weg)? Weshalb spielt in der VR China die Bourgeoisie immer noch eine Rolle; wozu wird sie (noch immer) gebraucht? Wie wird die Macht der Arbeiterklasse in der VR China ausgeübt? Welche Erfolge, welche Risiken?

Eine andere „Weltsicht“

Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) muss eine andere „Weltsicht“ haben als unsere Partei, die DKP. Unterschiedliche Weltsicht, die dennoch auf dem gleichen Fundament steht, dem Marxismus-Leninismus.

Die KPCh ist nicht nur eine KP an der Macht und hat 96 Millionen Mitglieder, sie hat auch eine andere Geschichte, die wir kurz charakterisieren müssen.

Sie musste in ihrer Theorie und Praxis von einem anderen Entwicklungsstand der Produktivkräfte ausgehen, von einem anderen Stand der Entwicklung der modernen Klassen Bourgeoisie und Proletariat, von einem anderen Stand bei der Herausbildung der modernen Nation. Der zentrale Unterschied dabei ist, dass China ins Zeitalter des Imperialismus nicht als Unterdrückernation eingetreten ist, sondern als unterdrückte Nation.

China hatte noch im 18. Jahrhundert unter den feudalen Qing-Kaisern eine Ära von Frieden und relativer Prosperität erlebt, hatte die größte Ausdehnung seines Territoriums erreicht. Seit dem Opiumkrieg von 1840 bis 1842 wurde China in ein halbfeudales, halbkoloniales Land verwandelt. Halbfeudal, weil die feudalen Grundherrn wegen der im eigenen Land entstandenen und durch den Handel mit den ausländischen Mächten geförderten Bourgeoisie nicht mehr unumschränkt herrschen konnten. Halbkolonial, weil China zwar formal-politisch ein souveräner Staat war, faktisch aber die ausländischen Mächte China immer mehr unter ihren Einfluss und in eine Abhängigkeit brachten, die eine eigenständige kapitalistische Entwicklung be- beziehungsweise verhinderte.

Bedenkenswert ist bei dieser Terminologie, dass China dabei nicht etwa als halb-kapitalistisch bezeichnet wird, obwohl in China auch bereits im 19. Jahrhundert kapitalistische Unternehmen gegründet wurden und nicht zuletzt der Eisenbahnbau und Waffenfabriken sich dynamisch entwickelten und Grundlage für den Aufstieg der Bourgeoisie als Hoffnungsträger der sich bildenden modernen Nation wurde. Aber nicht der sich entwickelnde Kapitalismus charakterisierte China, sondern die Überreste des Feudalismus und die Ausplünderung durch Kolonial- und schließlich Imperialmächte.

Bourgeoisie und Proletariat in China

An der Bourgeoisie hingen nicht nur Industrie, Banken, Handel, sondern auch Studenten, Intellektuelle, reich gewordene Auslandschinesen, bei denen unter anderem Sun Yat-sen Spenden einsammelte für seine Revolutionäre Allianz (Tongmenghui, die Vorläuferin der Guomindang) und daraus – und nicht nur durch seine starke Führungspersönlichkeit – den überragenden Einfluss in der revolutionär-demokratischen Bewegung Chinas gewann. Doch das Ergebnis der Revolution von 1911 zeigte, dass die chinesische Bourgeoisie einerseits Komplizin des Imperialismus geworden war, andererseits selbst vom Imperialismus unterdrückte Klasse. In dieser Zwiespältigkeit war sie nicht mehr in der Lage, den nationalen Befreiungskampf und den Kampf gegen die Überreste des Feudalismus anzuführen. Wohl aber konnte sie in diesem Kampf ein zeitweiliger und schwankender Bundesgenosse werden. Bundesgenosse des Proletariats, das nunmehr im Zeitalter des Imperialismus allein dazu berufen ist, die Führung im nationalen Befreiungskampf zu übernehmen. Diese Konstellation muss man in Rechnung stellen, wenn man das heutige Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse und die Haltung der KPCh dazu begreifen will. Gegner und Bundesgenosse, Gegner als Ausbeuter, aber Bundesgenosse im Kampf gegen den Imperialismus. Das auseinanderzuhalten und zusammenzubringen kann nur eine Partei leisten, die mit dem dialektischen Materialismus ausgerüstet ist und etwas versteht von der Einheit der Widersprüche, von Einheit und Kampf.

Mao Zedong hat diese Widersprüche untersucht: „In der Periode der sozialistischen Revolution beutet sie (die nationale Bourgeoisie) zum Zwecke des Profits einerseits die Arbeiterklasse aus, gleichzeitig unterstützt sie die Verfassung und ist bereit, die sozialistische Umgestaltung zu akzeptieren. (…) Die Widersprüche zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, die zwischen der Arbeiterklasse und der Klasse der nationalen Bourgeoisie bestehen, sind eigentlich antagonistische Widersprüche. Aber unter den konkreten Bedingungen in China können die antagonistischen Widersprüche zwischen diesen beiden Klassen, wenn man sie richtig behandelt, in nicht-antagonistische Widersprüche umgewandelt werden. Wenn wir ihn jedoch nicht richtig behandeln und uns gegenüber der nationalen Bourgeoisie nicht der Politik des Zusammenschlusses, der Kritik und der Erziehung bedienen oder wenn die nationale Bourgeoisie diese Politik nicht akzeptiert, kann sich der Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und der nationalen Bourgeoisie in einen Widerspruch zwischen uns und dem Feind verwandeln.“ Diese Erkenntnis gehört zur theoretischen Grundlage der KPCh.

Jahrzehnte blutiger Krieg und Bürgerkrieg

Im Beschluss des 25. Parteitags der DKP heißt es: „Seit der bürgerlichen Revolution 1911 war China bis 1949 ununterbrochen in einen blutigen Bürgerkrieg verstrickt, seit 1927 mit ‚Ausrottungs- und Vernichtungsfeldzügen‘ gegen die Stützpunktgebiete der chinesischen Sowjets. Über 20 Millionen Chinesen starben während der Besetzung des Landes durch Japan im Zweiten Weltkrieg, der für China bereits 1931 mit der Annexion der Mandschurei durch Japan begonnen hatte. Die Bevölkerung litt unter extremer Armut. 75 Prozent der Bevölkerung waren in der Landwirtschaft beschäftigt, die Industrie machte nur 10 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Weniger als 10 Prozent der Bevölkerung besaßen 70 bis 80 Prozent des bewirtschafteten Landes.“ Nach der Befreiung des Landes von den japanischen Besatzern im August 1945 trieb die Guomindang-Spitze erneut zum Bürgerkrieg. Noch einmal kam es fast vier Jahre lang zum bewaffneten Kampf von Millionen. Hier die von den USA bestens ausgerüsteten Guomindang-Truppen, dort das Bauernheer der KP, das zunächst nur in geringem Maß von der selbst unter den Folgen des Kriegs leidenden Sowjetunion unterstützt wurde. Die nach dem Sieg der Volkskräfte am 1. Oktober 1949 von Mao ausgerufene Volksrepublik China sah auf ein zerstörtes, verelendetes Land. Die Kommunistische Partei bestand ganz überwiegend aus Bauern. War die Industrie und damit das Kernproletariat schon vor 1937 zahlenmäßig schwach, so war jetzt die Industrie zerstört, die Arbeiterklasse zerstreut oder als Kämpfer in der Volksbefreiungsarmee (VBA).

Die einzigen wirklichen Kräfte, die das Werk des Aufbaus in Angriff nehmen konnten, waren – neben den acht demokratischen Parteien, die in die Politische Konsultativkonferenz eingetreten waren –, die KP und ihre VBA.

Im Vergleich zu Russland hatte China im Jahr 1949 mehr als 100 Jahre halbkoloniale Ausplünderung und 40 Jahre ununterbrochen Krieg und Bürgerkrieg hinter sich, während Russland immerhin vor 1917 ein imperialistisches Land war, das als Unterdrückernation selbst andere Länder ausgeplündert und „nur“ sieben Jahre Krieg und Bürgerkrieg zu ertragen hatte.

So wird die neue Welt geboren

Lenin musste bereits Marx und Engels korrigieren, die erwartet hatten, dass die proletarische Revolution in den Ländern ausbrechen würde, in denen die Produktivkräfte am meisten entwickelt waren und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sich bereits als zu eng für ihre weitere Entwicklung erweisen. Stattdessen siegte sie im rückständigen Russland, in dem Land, das sich als das „schwächste Glied“ in der imperialistischen Kette erwies.

Die chinesischen Kommunisten mussten wiederum Lenin ergänzen, da nun der Sozialismus in einem Land aufgebaut wurde, das noch mit den feudalen Überresten fertig werden und sich aus halbkolonialer Abhängigkeit befreien musste. Die Voraussetzung war, dass mit dem Sieg der Oktoberrevolution das Zeitalter der bürgerlich-demokratischen Weltrevolution zu Ende gegangen war und das Zeitalter der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution begonnen hatte. Damit werden auch die nationalen Befreiungskämpfe der vom Imperialismus unterdrückten Völker Teil der Entwicklung zum Sozialismus.Mao hielt dazu fest: „Wenn in einer solchen Epoche ein beliebiges koloniales oder halbkoloniales Land eine Revolution gegen den Imperialismus, das heißt gegen die internationale Bourgeoisie, gegen den internationalen Kapitalismus, unternimmt, dann gehört diese Revolution nicht mehr zur alten Kategorie der bürgerlich-demokratischen Weltrevolution, sondern zu einer neuen Kategorie; dann ist sie nicht mehr Bestandteil der alten, bürgerlichen oder kapitalistischen Weltrevolution, sondern Bestandteil einer neuen Weltrevolution, das heißt, sie ist zum Bestandteil der sozialistischen Weltrevolution des Proletariats geworden. Solche revolutionären Kolonial- und Halbkolonialländer sind nicht mehr Bundesgenossen der konterrevolutionären Weltfront des Kapitalismus, sondern sie haben sich in Bundesgenossen der revolutionären Weltfront des Sozialismus verwandelt.“ Im Kern bedeutet das, dass in solchen Ländern unter Führung der Arbeiterklasse im Bündnis mit der Bauernschaft, dem städtischen Kleinbürgertum und der nationalen Bourgeoisie nach der Eroberung der politischen Macht das ökonomische Rückgrat der Volksmacht geschaffen werden muss, um die Befreiung abzusichern. Dazu braucht es sozialistische Produktionsverhältnisse mit einem hohen Anteil von Staats- und Kollektiveigentum, die aber für den gegebenen Entwicklungsstand der Produktivkräfte schon „zu weit“ sind. Die Produktivkräfte müssen erst in die Produktionsverhältnisse hineinwachsen. Oder anders ausgedrückt: Die Aneignungsweise ist bereits gesellschaftlich, ohne dass die Produktion bereits vergesellschaftet war. Dabei hatte die VR China immerhin bis 1960 die Sowjetunion und das sozialistische Lager als Beistand.

381201 Ernte - Sozialismus mit der Bourgeoisie – geht das? - Bourgeoisie, China-Debatte - Hintergrund
Im Nordosten Chinas ernten Bauern aus dem Dorf Huajia in der Provinz Jilin Mitte September den ersten Reis. (Foto: Xinhua)

Auf wen konnten sich die chinesischen Kommunisten stützen, wenn es „ums Geschäft“, um die Ökonomie ging? Die KPCh hatte hervorragend gelernt, Krieg zu führen, in ländlichen Regionen auch staatliche Strukturen aufzubauen, aber nicht Firmen zu leiten, Industrieproduktion und Technik zu entwickeln. Sollten sie in dieser Situation zu den Bourgeois, die nicht mit dem Hofstaat Chiang Kai-sheks nach Taiwan geflohen waren oder bei Verwandtschaft in Übersee unterschlüpften, sagen, schert euch weg? Und damit ja nicht nur die Bourgeoisie verprellen, sondern auch deren Verbündete im städtischen Kleinbürgertum, in der Intelligenz und nicht zuletzt in der Bauernschaft? Deswegen wurde zwar das in- und ausländische Großkapital enteignet, die nationale Bourgeoisie jedoch nicht. Statt Profit erhielten die Unternehmer eine Verzinsung ihres Kapitals. Die Gangart verschärfte sich während der Kulturrevolution. Mit dem Beginn der Politik von „Reform und Öffnung“ ab 1978 aber fielen Beschränkungen für die nationale Bourgeoisie Schritt für Schritt – zuerst in den neugeschaffenen Sonderwirtschaftszonen wie Shenzhen. Seitdem hat sich auch der Zufluss von ausländischem Kapital gewaltig erhöht, dass allerdings auch weiterhin sehr genau reglementiert ist, insbesondere was die Gründung von Firmen und die Rückführung von Gewinnen betrifft.

Immer noch Bourgeoisie?

Nach über 70 Jahren Volksrepublik gibt es die Bourgeois in China immer noch – inzwischen gar Milliardäre in der Partei.

Mit Verlaub: Von diesen 70 Jahren hatte die VR China 20 Jahre (von 1960 bis 1980) faktisch „Kriegskommunismus“ angesichts der Aggression durch den Imperialismus (Aufrüstung Taiwans, blutige Grenzkonflikte mit Indien, Krieg in Vietnam, Laos, Kambodscha). Und dazu die Isolierung von der Sowjetunion im Zusammenhang mit der Spaltung der kommunistischen Weltbewegung! Seit nunmehr 40 Jahren macht die VR China eine relativ friedliche Entwicklung durch. Relativ friedlich, wenn man den Versuch zur Konterrevolution von 1989, die folgenden Sanktionen, den mal mehr, mal weniger offen geführten Wirtschaftskrieg, die Einkreisungsversuche beiseite lässt.

Die VR China hat in dieser Zeit unter der Führung der KPCh Riesenfortschritte gemacht, aber China ist trotzdem noch aufs Ganze gesehen ein Entwicklungsland. Dem hochentwickelten Küstenstreifen steht ein überwiegend noch ländlich geprägtes Hinterland gegenüber, dem entwickelteren Osten ein sich erst entwickelnder Westen, darunter solche „schwierigen“ Gebiete wie Xinjiang oder Tibet, das umfassend aufblühende Guangdong und Shenzhen im Süden und ein ergrünender, aber noch karger Norden wie etwa die Mongolei. Dazu der Untergang alter und der Aufstieg neuer Industrien und Wirtschaftssektoren – nicht zuletzt vor dem Hintergrund ehrgeiziger klimapolitischer Ziele. Nicht zuletzt ist die Bevölkerung seit der Gründung der Volksrepublik um fast 900 Millionen Menschen gewachsen von 546 Millionen (1950) auf heute 1.412 Millionen. Während bei uns um den Zuzug von ein paar tausend Migranten gefeilscht wird wie auf dem Sklavenmarkt, hat China seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelt – und ist dabei aufgeblüht! Und das soll – wie Kritiker Chinas behaupten – von einem kapitalistischen, gar imperialistischen China erreicht worden sein? Von Deutschland dagegen war zu vermelden: größer werden durch Kaputtschlagen der DDR, Aufrüstung, Hartz-Gesetze und Flughafen BER.

Die Entwicklung in der Volksrepublik hat nicht etwa zu Massenverarmung, „zur Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation“ geführt, wie es Marx im „Allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ formuliert hat. Das war keine Entwicklung wie im Kapitalismus des 19. Jahrhundert, sondern eine Entwicklung zur Beseitigung der aus halbfeudalen, halbkolonialen Verhältnissen ererbten Armut, Rückständigkeit und mit Opium vernebelten Hoffnungslosigkeit. Eine Entwicklung hin zu einem hohen Bildungsniveau, funktionierenden öffentlichen Einrichtungen, zu sozialen Sicherungssystemen, um die China nicht nur in Entwicklungsländern beneidet wird.

Aber: gemessen an Produktion pro Kopf, an der Arbeitsproduktivität und an der Urbanisierung – um nur einmal diese drei Kriterien zu nennen – liegt die VR immer noch erheblich hinter den klassischen entwickelten Industrieländern des „Westens“ zurück.

Die Bourgeoisie ausnützen?

Um das schnell zu überwinden, meint die KPCh die Bourgeoisie noch gebrauchen zu können.

Sie hat für sich, für China diese Entscheidung getroffen; sie nennen das bescheiden „Sozialismus mit chinesischen Charakteristika“. Sie maßen sich nicht an, Vorbild für andere zu sein oder den allgemeingültigen Weg des Sozialismus zum Kommunismus gefunden zu haben. Und die KPCh ist auf unerschlossenem Terrain. China ist ein riesiges Experimentierfeld, umso mehr nach dem Fall der Sowjetunion, dem Wegfall ihrer Orientierungsfunktion im Guten wie im Schlechten. Konnte man früher noch sagen: „Das machen wir anders als Moskau!“, steht jetzt China selbst mit Kuba, Vietnam, Laos und der DVR Korea an der vordersten Front bei der Erkundung des Wegs, der ja nicht nur über die Zukunft des Sozialismus entscheiden wird, sondern angesichts des Untergangsdrangs des Imperialismus über die Perspektive der ganzen Menschheit.

Die chinesische KP muss einen Umgang mit der Bourgeoisie im eigenen Land finden, die darüber hinaus Besonderheiten aus der kolonialen Vergangenheit aufweist wie in Hongkong, Macau und auf Taiwan. Sie hat mit der Bourgeoisie unter den etwa 60 Millionen Auslandschinesen (das entspricht der Einwohnerzahl Italiens) zu tun, die mit ihren vielfältigen Verbindungen durchaus von Nutzen für die VR sein oder ihr natürlich auch großen Schaden zufügen kann. Und sie hat mit der imperialistischen Bourgeoisie zu tun, deren Konkurrenz untereinander es zu nutzen gilt.

Und generell: Die KPCh rechnet nicht nur mit viel längeren Zeiten für den Aufbau des Sozialismus zum Kommunismus als es früher unter Kommunisten üblich war; sie hat sich längst von der Vorstellung verabschiedet, dass man nach dem Sieg und der Errichtung der demokratischen Diktatur des Volkes in einer Art „Reinraum“ wäre.

Die entscheidende Frage ist: Kann die Partei die Bourgeoisie unter Kon­trolle halten? Dafür gibt es viele positive Anhaltspunkte. Die KPCh hat die Macht im Staat. Sie verfügt über den Gewaltapparat und die Nachrichtendienste, der letztlich die Bourgeoisie niederhalten kann, auch über Finanz- und sonstige Behörden, die etwa den Devisenverkehr oder den Wettbewerb überwachen und den Unternehmen in die Bücher schauen können. Sie hat mit den Banken die Verfügung über den Kredit und damit über die Expansionsmöglichkeiten von Unternehmen. Sie beherrscht die Kommandohöhen der Wirtschaft wie Elektrizität oder Telekommunikation. Sie verfügt nicht zuletzt über Grund und Boden, auf dem die Betriebe stehen dürfen. Sie hat Parteikomitees in allen wichtigen Betrieben inklusive denen der ausländischen Unternehmen, die immer mehr über die Leitung des Betriebs lernen und sie beeinflussen können. Sie hat durch ihren Einfluss im All-Chinesischen Gewerkschaftsbund Möglichkeiten, auf Löhne und Arbeitsbedingungen einzuwirken.

Das sind keine „Papiertiger“, wie das Vorgehen etwa gegen Jack Ma von „Alibaba“ oder gegen korrupte Elemente in den Kampagnen der letzten Jahre. Und sie hat auch einige Milliardäre als Individuen in die Partei gezogen, in der sie ohne Privilegien sich unter Aufsicht der einfachen Genossen in ihren Parteigruppen auf der Grundlage des Statuts bewähren können.

Überwindung der Bourgeoisie

Dass es die chinesischen Kommunisten im Übrigen auch ohne Bourgeoisie können – aber eben erheblich langsamer und in der (taktischen) Defensive – haben sie in jenen 20 Jahren des faktischen Kriegskommunismus unter Beweis gestellt: Da war die Bourgeoisie unter ständigem Druck und der Drohung mit Enteignung, die Mittelbauern unter Aufsicht der Volkskommunen gestellt, detaillierte Fünfjahrpläne als Gesetz mit scharfen Sanktionsdrohungen – Klassenkampf auf breiter Front. Dafür wurde das zeitweise geringere Wachstumstempo bei der Entwicklung der Produktivkräfte in Kauf genommen – ohne dabei die zahlreichen technischen Errungenschaften und schöpferischen Initiativen aus dieser Zeit zu vergessen.

Was kann denn die Bourgeoisie schneller als eine umfassende Planwirtschaft einerseits oder kleine Warenproduzenten, Handwerker, Bauern andererseits?

Die Kleinproduktion ist oft Subsistenzwirtschaft mit geringem Mehrprodukt über den Bedarf des Produzenten hinaus. Erst der Kapitalist entwickelt Größenordnungen, die den Einsatz moderner Technik nicht nur rentabel machen; er hat auch die Möglichkeit, diese Technik zu beschaffen. Was dem sozialistischen Staat von den kapitalistischen Staaten verwehrt wird, kann die Bourgeoisie von gleich zu gleich bei Klassenbrüdern im Ausland beschaffen. Sie muss darüber hinaus die Mittel rationell einsetzen, jedenfalls solange sie unter dem Druck der Konkurrenz steht. Und sie nimmt dem Staat einen Teil der Planungsaufgaben und der damit verbundenen Risiken ab. Der Einzelkapitalist kann auch flexibler auf Änderungen in der Realwirtschaft reagieren, schneller entscheiden. Er ist üblicherweise nicht auf lange formelle Entscheidungswege durch mehrere Instanzen der Planungsbehörde angewiesen. Und schließlich ist offen auf dem Markt agierende Bourgeoisie leichter zu kontrollieren als die in allen bisherigen Planwirtschaften auftauchenden „Verkehrsformen“ der Bourgeoisie wie Schleichhandel oder Geldhorten.

Mit dem „Einsatz“ von Bourgeoisie, um den Sozialismus schneller aufzubauen, gehen die Partei und der sozialistische Staat stets das Risiko ein, dass sich die Bourgeoisie auch politisch verselbstständigt und zu einer Klasse für sich wird, die den Kampf um die Macht aufnimmt. Das befürchten die China-Skeptiker, wenn sie nicht bereits die Bourgeoisie an der Macht sehen. Sie übersehen, dass die Bourgeoisie und das Proletariat als Einheit der Widersprüche miteinander verbunden sind, bis die Voraussetzungen geschaffen werden, dass weltweit ein solcher Stand bei der Entwicklung der Produktivkräfte erreicht wird, dass beide Klassen überflüssig werden.

Marx hat erkannt: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“

Und gegenüber dem Einwand, dass mit dem Einsatz von Bourgeoisie zur Produktivkraftentwicklung auch die Ausbeutung der Arbeiter verbunden ist, gibt Marx nüchtern zu bedenken: „Dass diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, dass also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozess erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden“.

China und wir

Die chinesischen Kommunisten haben diese Herausforderung angenommen, mit der Bourgeoisie für deren Untergang zu arbeiten. Aber das ist eine andere Sache als bei uns: In China an der „fürsorglichen Hand“ der Arbeiterklasse und ihrer KPCh das Potential der Bourgeoisie als „dienende“ Klasse ausnutzen; dagegen bei uns, wo die Bourgeoisie in einer Unterdrückernation noch an der Macht ist und alle Hebel in Bewegung setzt, um ihr Überleben als herrschende Klasse zu verlängern. Dass hier andere Aufgaben für uns Kommunisten anstehen, ist offensichtlich.

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"Sozialismus mit der Bourgeoisie – geht das?", UZ vom 22. September 2023



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