Zu den Skandalen der katholischen Kirche

Aus dem Elend

Andi Nopilas

Die „Neue Rheinische Zeitung“ war nicht auf die Idee gekommen, in ihrer ersten Nummer am 1. Juni 1848 ein fettes „Wir sind Marx!“ als Titelüberschrift zu wählen, um so das gerade um die Welt laufende „Manifest der Kommunistischen Partei“ zu würdigen. Wahrscheinlich war ein solcher Titel dem „Organ der Demokratie“ einerseits zu viel Boulevard, anderseits zu wenig internationalistisch. Vielleicht war einfach der Namensgeber dagegen. Oder man glaubte, Effekthascherei im Lichte des bevorstehenden Erfolgs nicht nötig zu haben. Seit 1848 sind aus Sicht des gesellschaftlichen Fortschritts die meisten Dinge in Deutschland allerdings dann doch eher schlechter geworden.

Zeugnis davon ist unter anderem die fortdauernde Existenz eines Herrschendenmediums namens „BILD“. Dieses zeigte 157 Jahre später, am 20. April – seit sechzig Jahren für „Wir haben Geburtstag!“ nicht mehr so recht zu verwenden –, dass im Jahr 2005 Boulevard und Nationalismus besser laufen als Aufklärung und Gesellschaftsveränderung. „Wir sind Papst!“ war erstklassig dazu geeignet, Marxsche Erkenntnisse und Reste von Obrigkeitsskepsis in einem Rutsch zu entsorgen. Nicht einmal mehr teures Opium musste dem Volk gereicht werden, auch da war Marx zu widerlegen.

Denn war mehr Obrigkeit auf dem Planeten durch einen Deutschen zu besetzen als die des Stellvertreters des Allmächtigen höchstselbst? Nein, und der Slogan passte den Schäfchen, wenn ihnen auch nicht unbedingt der erzkonservative Joseph Ratzinger gefiel. Fast acht Jahre lang stand der Bayer an der Spitze des Vatikans und damit im Selbstverständnis an der der gesamten Christenheit.

Nun haben die Veröffentlichungen im Missbrauchsgutachten über Vergehen an mindestens 497 Menschen durch katholische Geistliche – allein in Ratzingers ehemaliger Diözese München und Freising – in den vergangenen Wochen den Menschen hinter dem Papst derart in Frage gestellt, dass er es hinbekommen könnte, als einer der Letzten seiner Art in die Geschichte einzugehen. Denn sogar über das Recht des Allmächtigen, künftig überhaupt noch einen Stellvertreter benennen zu dürfen, wird schon debattiert. Damit nicht genug: Ratzingers Nachfolger in München, Reinhard Marx, war ebenfalls für Vertuschung und Strafvereitelung verantwortlich. Da war die Vorsicht der „Neuen Rheinischen Zeitung“ wohl einfach Weitsicht.

„Wir sind Papst“ ist also durch, und Gott ist eh‘ schon an Maradona vergeben. Müssen sie sich also selbst erlösen. Ohne Marx.

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"Aus dem Elend", UZ vom 4. Februar 2022



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