Der Internationale Fechtverband hat nach Regelverstoß einen Präzedenzfall geschaffen

Belohnung für Rüpelei

Dass jene im Irrtum sind, die immer noch meinen, Sport wäre unabhängig von der Politik, wäre gar autonom, zeigen viele Beispiele aus der Geschichte des Sports, auch der Olympischen Spiele. So – im vergangenen Jahr – die Debatten um die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar 2022 um die Selbstdarstellung der Gastgeber oder jene in diesem Jahr um die Wiederzulassung russischer und belorussischer Sportlerinnen und Sportler zu internationalen Wettkämpfen und möglicherweise auch den Olympischen Spielen 2024, jüngst aber auch der Fall der ukrainischen Säbelfechterin Olha Charlan.

Am 27. Juli standen sich im Convention Centre in Mailand in einem der Einzelkämpfe im Rahmen der FIE-Fechtweltmeisterschaft die Ukrainerin Olha Charlan, Olympiasiegerin sowie vierfache Weltmeisterin, und die Russin Anna Smirnowa gegenüber. Erst am Abend zuvor hatte das ukrainische Sportministerium seinen Sportlerinnen und Sportlern die Erlaubnis für die Teilnahme an Wettkämpfen erteilt, bei denen auch russische oder belorussische Athletinnen und Athleten antreten. Charlan hatte laut Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) „zuletzt erklärt, gerne gegen Russinnen fechten zu wollen. Der Kampf gegen Russland solle ‚an allen Fronten‘ geführt werden, sagte sie. Die Soldaten an der Front würden ihre Gefechte verfolgen.“ Die Ukrainerin besiegte Smirnowa deutlich. Als diese der Siegerin nach dem Kampf die Hand reichen wollte, verweigerte Charlan den Handschlag, hielt stattdessen Smirnowa ihren Säbel entgegen. Damit verstieß Charlan gegen eine der wichtigsten Höflichkeits- und Fairnessregeln in diesem Sport.

Im Sport gibt es – meist eindeutige – Regeln. Nicht nur, wie groß beispielsweise ein Spielfeld oder eine Kampfbahn sein darf, wie lange der Wettkampf dauert und so weiter, sondern neben Verhaltens- eben auch Fairnessregeln. Notwendige Regeländerungen werden oft lange und nicht selten auch kontrovers diskutiert, ehe eine Entscheidung fällt. Während der Corona-Pandemie gab es – auch im Fechtsport – vernünftige Ausnahmen. Verstoßen Sportlerinnen oder Sportler beziehungsweise Trainer gegen Regeln, dann werden sie verwarnt oder gar disqualifiziert. Friedlich und fair sollten Wettkämpfe verlaufen.

Das Regelwerk des Fecht-Weltverbandes lautete bis vor Kurzem: Vor und nach dem Kampf müssen die Athletinnen und Athleten ihre Gegnerin beziehungsweise Gegner, den Schiedsrichter und das Publikum grüßen. Am Ende war zudem ein Handschlag mit dem Gegner vorgeschrieben. Wer diesen Handschlag verweigerte, erhielt eine „Schwarze Karte“. Das bedeutete die sofortige Disqualifikation.

Charlan wurde also disqualifiziert, durfte im Einzelwettkampf trotz ihres Sieges nicht mehr antreten. Wenig später wurde die Disqualifikation aber durch die FIE teilweise wieder aufgehoben. Offenbar wurde der Druck, der von einigen nationalen Verbänden und den Medien ausging, zu groß – auch wenn man noch nicht wieder den Forderungen aus der Politik, Russland habe im Moment im internationalen Sport nichts zu suchen (Nancy Faeser), folgt. Charlan durfte am Teamwettbewerb, der wenige Tage später stattfand, teilnehmen. Die Entscheidung sei im Einklang mit dem olympischen Geist getroffen worden, erklärte FIE-Interimspräsident Emmanuel Katsiadakis nach Beratungen mit dem Internationalen Olympischen Komitee. IOC-Chef Thomas Bach hatte Charlan in einem Brief zuvor gar einen Olympia-Platz versprochen: „Angesichts deiner besonderen Situation wird dir das Internationale Olympische Komitee einen zusätzlichen Quotenplatz für die Olympischen Spiele Paris 2024 zuweisen, falls du dich in der Zwischenzeit nicht qualifizieren kannst.“

Bereits am 29. Juli gab FIE-Exekutivkomitee-Mitglied Bruno Gares dann bekannt, dass der Handschlag künftig durch einen einfachen Gruß ersetzt werden soll: „Am Ende des Kampfes kehren die Athleten in eine En-Garde-Position zurück und grüßen ihre Gegner, den Kampfrichter und das Publikum mit ihren Waffen. Das ist das Ende des Kampfes.“

Stellen wir uns einmal vor, Smirnowa hätte Charlan den Handschlag verweigert.

In den kommenden Monaten müssen sich Sportlerinnen und Sportler bei Weltmeisterschaften und bei anderen Wettkämpfen für Olympia qualifizieren, wobei es vorerst keine formalen Einladungen an die Nationalen Olympischen Komitees aus Russland und Belarus für die Spiele von Paris gibt. Bei nicht wenigen Wettkämpfen – einige internationale Verbände, so der Schwimm- und der Leitathletikverband, lassen nach wie vor russische wie belorussische Athletinnen und Athleten nicht zu – kann es auch zum Aufeinandertreffen von ukrainischen und in Russland beheimateten Sportlerinnen und Sportlern kommen. Die FIE hat möglicherweise mit ihrem Verhalten einen Präzedenzfall geschaffen, der die in der – immer noch gültigen – Olympischen Charta, auch in der aktuellen Fassung, formulierten „fundamentalen Werte“ wie Fairness und Chancengleichheit, Respekt und Toleranz und auch den kompromisslosen Kampf gegen Diskriminierung in jeder Form erneut in Frage stellt.

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Belohnung für Rüpelei", UZ vom 11. August 2023



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