Der 17. Juni ist fester Bestandteil der Propaganda des deutschen Imperialismus

Der gemachte Aufstand

Am 17. Juni jähren sich zum 70. Mal die Ereignisse in der DDR, die schon bald darauf in der Bundesrepublik mit dem Schlagwort vom „Volksaufstand“ glorifiziert werden sollten. Nach wie vor ist die Art und Weise, in der dieser Tag begangen wird, aufschlussreich hinsichtlich des Selbstverständnisses der erneut aufgestiegenen Großmacht Deutschland. Bei der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum 17. Juni im vorigen Jahr hielt die Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Klara Geywitz (SPD), die Rede. Sie fand bewegende Worte für diejenigen, die damals für „Freiheit“ und „Demokratie“ auf die Straße gegangen seien – nicht ohne das gleiche Heldentum nun in der Ukraine zu preisen. Denn auch dort würde jetzt für die gleichen Ideale gegen die russische Aggression gekämpft. Ein Zitat von Martin Luther King bemühend, gab sie ihrer Hoffnung Ausdruck: „Möge sich der Bogen des moralischen Universums schnell hin zur Gerechtigkeit neigen.“

Es ist interessant, in welcher Weise hier zwei historische Vorgänge in Zusammenhang gebracht werden. In beiden Fällen erscheint das Grundmotiv, dass sich „die Menschen“ für edle moralische Werte erheben – ohne äußere Einflussnahme, versteht sich. Und in beiden Fällen erscheint auf der Feindseite „der Russe“.

Es soll hier nicht darum gehen, dass der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ohne das Expansionsstreben der NATO, ohne massive westliche Einmischung in die inneren Verhältnisse der Ukraine bis hin zur Hilfe für einen Putsch unter Einschluss faschistischer Kräfte schwer denkbar wäre. Aber wie haltbar ist die durch die Ausführungen von Geywitz nahegelegte Behauptung, die „Aufständischen des 17. Juni“ hätten sich nur von eigenem Freiheitswillen beseelt erhoben?

Grundsätzlich hat die Bundesregierung unter Konrad Adenauer das Geschehen in der DDR zu keinem Zeitpunkt als eine dortige innere Angelegenheit betrachtet. Schließlich hatte der ostdeutsche Staat mit der Enteignung von Großgrundbesitz und Kriegsverbrecherkonzernen nicht nur dem Faschismus seine soziale Basis genommen, sondern sich in der denkbar schwersten Weise gegen das heiligste Prinzip der bürgerlichen Ordnung versündigt – gegen das Privateigentum. Revanchisten und Monopolherren in der BRD erschien es als einzig denkbare Option, diese Entwicklung zurückzudrehen. Hierbei wussten sie die Adenauer-Regierung an ihrer Seite. Der Kanzler stellte klar: „Was östlich von Elbe und Werra liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung.“ Und auch Außenminister Heinrich von Brentano zeigte sich als Freund deutlicher Worte: „Wir werden alles tun und das Letzte unternehmen, ich sage ausdrücklich: alles und das Letzte, um die sowjetische Besatzungszone wieder zurückzuholen.“ Passend dazu wurde auch gegen das Görlitzer Abkommen vom 6. Juni 1950 gehetzt, mit dem die DDR und die Volksrepublik Polen die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen beiden Staaten vereinbart hatten. Nach bundesrepublikanischer Lesart hatte man hier in landesverräterischer Weise die „deutschen Ostgebiete“ verschenkt.

„Was östlich von Elbe und Werra liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung.“

Im Geiste dieser revanchistischen Gelüste sollte zunächst der eigene Herrschaftsbereich feindfrei gemacht werden. Mit dem Ersten Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 wurde ein Gesinnungsstrafrecht eingeführt, mit dessen Hilfe vor allem die KPD, die FDJ und Widerstandskräfte gegen die geplante Wiederbewaffnung verfolgt wurden. Hitlers in Amt und Würden verbliebene Richter konnten erneut Haftstrafen wegen der Äußerung missliebiger Meinungen verhängen. Aber dabei blieb es nicht. Bei den Weltfestspielen des Weltbundes der Demokratischen Jugend im August 1951 in Berlin wurde ein FDJ-Demonstrationszug von der Westberliner Polizei zusammengeprügelt. Es gab etwa 1.000 Verletzte. Am 11. Mai 1952 wurde der FDJ-Aktivist Philipp Müller bei einer Friedensdemonstration in Essen von der Polizei ermordet.

Die Bundesregierung verstand es, sich für diesen Kurs des passenden Personals zu versichern. Unter dem Namen Organisation Gehlen (später BND) wurde ein Auslandsgeheimdienst aufgebaut. An dessen Spitze stand der ehemalige Generalmajor der Wehrmacht Reinhard Gehlen, der im Zweiten Weltkrieg den Militärgeheimdienst mit dem nun wieder aktuell klingenden Namen „Fremde Heere Ost“ geleitet hatte. Zudem gab Adenauer eine Erklärung ab, in der er das angeblich tadellose soldatische Verhalten von Wehrmacht und Waffen-SS feststellte.

Bereits seit dem 17. Oktober 1948 war von Westberlin aus die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU)“ aktiv. Hierbei handelte es sich um eine von den westalliierten Militärbehörden als gemeinnützig anerkannte Vereinigung von militanten Antikommunisten und Altnazis, die mit Terroranschlägen und Sabotage von Produktionsanlagen die Sicherheitsorgane der DDR beschäftigten. Auch vor Mord wurde nicht zurückgeschreckt, weswegen der bekannte evangelische Theologe Martin Niemöller die KgU eine Verbrechergruppe nannte. Gleichwohl erfreute sich diese des Wohlwollens und der Unterstützung der bundesdeutschen beziehungsweise Westberliner Behörden.

Währenddessen erarbeitete der „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ bereits Pläne für die Reprivatisierung von Boden und Produktionsmitteln im Osten. Der Bundesminister für „gesamtdeutsche“ Fragen, Jakob Kaiser, verkündete im März 1953 hoffnungsfroh: „Es liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit, dass der Tag X rascher kommt, als Skeptiker zu hoffen wagen. Es ist unsere Aufgabe, für die Probleme bestmöglich vorbereitet zu sein. Der Generalstabsplan ist so gut wie fertig.“ Es ist schwer vorstellbar, dass Kaiser und seinesgleichen den 17. Juni nicht als ihren ersehnten Tag X begrüßt hätten. Es war somit nur folgerichtig, dass der Westberliner Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) eine wichtige Rolle beim Anheizen der Unruhen im Ostteil der Stadt und in der DDR spielte. Der damalige Chefredakteur Egon Bahr rühmte sich später: „Ohne den RIAS hätte es den Aufstand so nicht gegeben.“ Die Wirksamkeit dieser Tätigkeit wurde bestätigt, als ein Vertreter der US-amerikanischen Militärbehörde in den Redaktionsräumen des RIAS erschien und die dort Anwesenden fragte, ob sie vorhätten, den Dritten Weltkrieg auszulösen. Währenddessen fanden sich unter den im Osten Berlins randalierenden und brandstiftenden „Freiheitshelden“ auch solche, die eigens zu diesen Zwecken aus dem Westen der Stadt gekommen waren.

Die Ereignisse um den 17. Juni herum sind also keineswegs nur mit DDR-internen Problemen und Widersprüchen zu erklären, obwohl deren Bedeutung nicht zu leugnen ist.

Bertolt Brecht hatte nach dem 17. Juni in einem Gedicht der Regierung der DDR ironisch empfohlen, das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen. Dies wurde im Westen immer wieder genüsslich zitiert. Vergessen wird hingegen der Brief Brechts an seinen westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953. Auch hier stellte er noch einmal fest, dass die Erbitterung der Arbeiter über Fehlentscheidungen der Regierung gerechtfertigt war. Aber ebenso konstatierte er, dass die Orientierung der Aufstandsbewegung ab einem bestimmten Punkt kippte und die Reaktion das Ruder übernahm. Auch die Rolle des RIAS und der westlichen Infiltration benannte er klar und schloss mit den Worten: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für die sozialistische Partei sehr schwerwiegend sind und Arbeiter, darunter auch alte Sozialisten, gegen sie aufbrachten. Ich gehöre ihr nicht an. Aber ich respektiere viele ihrer historischen Errungenschaften, und ich fühlte mich mit ihr verbunden, als sie – nicht ihrer Fehler, sondern ihrer Vorzüge wegen – von faschistischem und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen wurde. Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite.“

Die Bundesrepublik begann schon 1954, den 17. Juni als Feiertag zu begehen, in dessen Zeichen die DDR als „zweite deutsche Diktatur“ dämonisiert wurde. Rührselige Verbundenheitsbekundungen, adressiert an „unsere Brüder und Schwestern in der Zone“, gingen Hand in Hand mit groteskem nationalistischem Rummel. So schwadronierte FDP-Chef Thomas Dehler am 17. Juni 1954 am Hermannsdenkmal bei Detmold von der Wiederkunft des „Reiches“. Zum gleichen Anlass 1965 forderte Vizekanzler Erich Mende die Erweiterung der Nationalhymne um die erste Strophe des Deutschlandliedes. Passend dazu hatte er sich an diesem Tag mit dem ihm vom „Führer“ verliehenen Ritterkreuz geschmückt.

Als 1990 die damit verbundenen Träume wahr wurden, schlug für die Ostdeutschen die Stunde der Wahrheit. Die „Brüder und Schwestern“ sahen sich schon bald als lästige, undankbare Kostgänger diffamiert, die es sich gefallen lassen mussten, dass man ihre Lebensleistung mit kolonialer Arroganz der Verachtung preisgab.

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"Der gemachte Aufstand", UZ vom 16. Juni 2023



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