Friedrich Ani erzählt von verschatteten Leben in einer trostlosen Welt

Die im Dunkeln sieht man nicht

Von Ellen Beeftink

Friedrich Ani

All die unbewohnten Zimmer

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019

494 Seiten, 22 Euro

München im Februar. Ein Mann schießt aus einem Fenster, tötet eine Frau und verletzt einen Polizisten schwer. Die „Patriotische Partei Deutschlands“ macht ihren üblichen Montagsspaziergang mit immer größer werdendem Zulauf und einer kalkulierten Provokation am „Braunen Haus“. Ein Polizist verfolgt zwei Kinder, die er beim Klauen beobachtet. Kurz darauf ist er tot. Erschlagen mit einem Stein. Der Attentäter ist schnell ermittelt, nach 90 Seiten im Buch ist eine sinnlose Tat aufgeklärt. Der Mord an dem jungen Kollegen erweist sich als wesentlich schwierigerer Fall.

Der einstige Mönch Polonius Fischer leitet das KK111, von den Kollegen „die 12 Apostel“ genannt, steht kurz vor der Pensionierung und legt Wert auf das gemeinsame, aber schweigsame Mittagessen mit seinen Mitarbeitern. Zu seinem Team gehört Fariza Nasri, der er nach einer achtjährigen Strafversetzung eine neue Chance gab. Er übernimmt die Soko Philipp Werneck, obwohl er das, wie sein Team, als Affront gegen die bis dahin ermittelnden Kollegen sieht.

Der pensionierte Kommissar Jakob Franck überbringt noch heute Todesnachrichten an die Hinterbliebenen, so auch dem Vater des erschlagenen Polizeiobermeisters. Der war mit Philipp Werneck aus Weimar gekommen, die Segnungen des Kapitalismus haben um ihn einen Bogen gemacht. Der ehemalige Verteidiger der DDR und ihrer Errungenschaften wird zum veritablen Naziversteher.

Tabor Süden sucht nach Vermissten, erst als Kommissar, dann als Privatdetektiv. Er war immer ein Zuhörer, wurde zum Schweiger, zum Säufer; Geisel seiner Erinnerungen. Mit ihm ist der Ani-Ermittler-Kosmos nahezu komplett. Allerdings arbeiten sie in „All die unbewohnten Zimmer“ nicht zusammen, wie der Klappentext suggeriert.

Aus wechselnden Perspektiven erzählt, montiert Friedrich Ani in seinem neuen Roman einen mehrsträngigen Plot, der Grenzen auslotet. Die des für einen einzelnen Menschen erträglichen Leids. und die einer Gesellschaft, die immer weiter auseinander driftet und deren Risse nicht mehr zu kitten sind. Eindringlich, intensiv, präzise, dabei poetisch und packend lenkt er den Fokus auf die am Rande, die Unsichtbaren, gibt jedem von ihnen eine Stimme und ein Gesicht.

Hazim und Mohammed leben seit sechs Jahren in München, gehen zur Schule, sprechen gut Deutsch, sind, wie man so schön sagt, gut integriert. Hazim ist drei, als ihr Zuhause in Aleppo hinter ihnen einstürzt, Mutter, Oma, Tante unter sich begräbt. Mit ihrem Vater schaffen sie es nach München, doch angekommen ist Hazim hier nie. Er weiß, dass seine Mutter tot ist, dennoch geht er immer wieder zum Hauptbahnhof und wartet auf sie. Lisa sammelt dort Flaschen. Seit der Trennung von ihrem Mann ist sie arbeits- und wohnungslos. In der Pension ihres Mannes und ihrer Tochter nächtigt sie nur im Notfall. Sie will ihnen nicht zur Last fallen und abhängig sein will sie schon gar nicht. Auch Indra ist wohnungslos, selbst wenn sie bei ihrem Freund schlafen kann. Süden ist fasziniert von dieser undurchsichtigen, ebenso beschädigten wie exzentrischen Frau. Und er weiß, dass sie ihm etwas verschweigt, was sie eigentlich loswerden möchte. Jeremias Soltau, ein gescheiterter Entertainer, ist verschwunden, um später im Kommissariat aufzutauchen und den Mord an Philipp Werneck zu gestehen. Süden war beauftragt, ihn zu finden. Seine Suchaktionen sind Teile des Puzzles, dass letztlich zur Aufklärung des Polizistenmordes führt.

Ani mäandert auf mehreren Zeitebenen durch Gedankensplitter und Details aus den Lebensläufen seiner Figuren. Das oft nur beiläufig Erzählte steht exemplarisch für die Spaltung einer spätkapitalistischen Gesellschaft. Da sind die aus der Bahn Geworfenen, verletzt, geschunden, haltlos die einen, rücksichts- und mitleidslos die anderen, die sich ihr Stück vom Kuchen nicht nehmen lassen wollen. Und da sind die Mächtigen oder nur Skrupellosen, die sich nehmen, was immer sie wollen. Am rechten Rand des Bildes drängen neue Akteure zur Macht, deren einfachen Lösungen und Losungen immer mehr Menschen folgen. Und sie sind nicht zimperlich bei der Durchsetzung ihres Hegemonialanspruchs. Bürgerwehr und Winterhilfe nur für deutsche Obdachlose. Prügel, Brandsätze, Steine und Messer für Migranten und andere Missliebige, Verräter, Abtrünnige.

Friedrich Ani verknüpft die vielen Handlungsstränge kunstvoll zu einem Muster. Es zeigt das Portrait einer Gesellschaft am Abgrund. Mit „All die unbewohnten Zimmer“ ist dem Krimi-Autor gelungen, wonach es die Literaturkritiker seit Jahren verlangt: der große Gegenwartsroman der bundesrepublikanischen Wirklichkeit.

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"Die im Dunkeln sieht man nicht", UZ vom 30. August 2019



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