Aufstand der Ostslawen 1939

Die Sowjetarmee wurde als Befreier begrüßt

Von Holger Michael

Das offizielle Gedenken des deutschen Überfalls auf Polen nutzte Bundespräsident Steinmeier, um die Opfer der Sowjetunion zu relativieren. Polens Staatspräsident Duda stellte das faschistische Deutschland in eine Reihe mit der Sowjetunion, da beide Polen angegriffen haben.

Der sowjetische Einmarsch in Ostpolen im September 1939 stellt ein zentrales Argument der Totalitarismustheorie dar. Deshalb wollen wir die Fakten in dieser und der kommenden Ausgabe näher untersuchen.

Bis zum 17. September war das Gros der polnischen Streitkräfte geschlagen, einige Truppenteile hielten sich noch in wenigen eingeschlossenen Positionen. Andere waren auf der Flucht. Die polnische Führung war nach Rumänien und Ungarn ausgewichen. Unrichtig war daher die hastig aufgestellte sowjetische Behauptung, Staat und Regierung hätten faktisch aufgehört zu existieren. Beides gab es noch, doch sie verfügten über keine Macht mehr, da bis zu 60 Prozent des Landes von den vordringenden Deutschen besetzt worden war. Unter diesen Bedingungen verlor der polnisch-sowjetische Nichtangriffsvertrag von 1932 zumindest seine praktische Grundlage.

Angesichts des deutschen Vormarsches, wurde dem polnischen Botschafter am 17. September mitgeteilt, das sich die UdSSR nicht gleichgültig verhalten könne. Daher werde die Rote Armee die Grenze überschreiten „und das Leben und Eigentum der Bevölkerung der Westukraine und Westbelorusslands unter ihren Schutz stellen.“ Mit etwa 600000 Rotarmisten begann Stunden später ein zweiwöchiger Befreiungsfeldzug.

Die polnische Regierung bezeichnete das als zynisches Bemänteln einer Aggression. Sie blieb bei der Leugnung des ostslawischen Charakters aus politischem Kalkül: Nur dadurch konnte das Anrecht Polens auf dieser Gebiete und die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und Belarus begründet werden, als auch die sowjetische Aggression propagiert werden.

die sowjetarmee wurde als befreier begruesst - Die Sowjetarmee wurde als Befreier begrüßt - Theorie & Geschichte - Theorie & Geschichte

( Mullerkingdom / Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Die ostslawischen Gebiete

Der Charakter der ostpolnischen Gebiete ist seit 1919 auch in Westeuropa bekannt. Zu diesem Zeitpunkt bediente sich das unabhängige Polen der Konkursmasse des Zarenreiches, um die alten Grenzen von 1772 wieder herzustellen, zerschlug 1919 die Sowjetmacht in Belorussland und Südlitauen, 1920 in der Westukraine und zwang die Sowjets 1921, eine Grenze zwischen den geteilten Nationen zu akzeptieren.

Die Briten schlugen dagegen eine polnisch-sowjetische Grenze an Bug und San vor (Curzon-Linie). Auch eine vom Westen verlangte Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der besetzten, ostslawischen Gebiete lehnte Polen ab.

Auf den Einmarsch der Roten Armee folgten seitens der Westmächte deshalb weder Kriegserklärungen, noch Protestnoten, sondern weitgehendes Verständnis. Die UdSSR wurde nicht als Bündnispartner der Nazis bezeichnet. Bis 1945 erkannten die Westmächte diesen territorialen Zuwachs der Sowjetunion offiziell an.

Westbelorussland und die Westukraine bildeten Ende der dreißiger Jahres 40 Prozent des polnischen Staatsgebietes. Dort lebte ein Drittel der Bevölkerung Polens, davon 60 Prozent Ukrainer und Belorussen, 30 Prozent Polen und etwa 10 Prozent Juden. Warschau erkannte die Nationalität der Ostslawen nicht an und bezeichnete sie diskriminierend als Ruthenen.

Doch mehr als 6 Millionen Ukrainer und Belorussen machten Warschau derartige Schwierigkeiten, die zu den Hauptproblemen Zwischenkriegspolens und einem Sicherheitsrisiko erwuchsen.

Die nationale und soziale Frage

In diesen wirtschaftlich rückständigsten Gebiete Polens bestand die polnische Minderheit zumeist aus Großgrundbesitzern, Kapitalisten, Militärsiedlern, Geistlichen und Angestellten des Öffentlichen Dienstes. Die Ostslawen hingegen waren zumeist arme Bauern, Landlose und Arbeiter. Das betraf auch die Juden, die hier besonders arm waren.

Die Ostslawen waren zumeist antipolnisch, prosowjetisch und links eingestellt. Eine Ausnahme machten Ukra­iner der Wojewodschaften Lwów, Stanisławów und Tarnopol, die nationalistisch-rechts dominiert waren, Polen und die UdSSR gleichermaßen ablehnten.

Die Ostslawen kämpften von Anbeginn gegen die polnische Fremdherrschaft.

Nach der Niederlage der belorussischen Sowjetrepublik gab es immer wieder Aktionen von kommunistische Partisanenabteilungen und Repressalien durch die Staatsmacht.Die Kommunistische Partei Westbelorusslands wurde zur führenden Kraft, hatte die meisten Gewerkschaften und den Bauernverband Hromada hinter sich.

Das spiegelte sich auch in den Wahlergebnissen wieder. 1922 wählten die Belorussen mit 53 Prozent mehrheitlich Linksparteien, mehr als das Doppelte des Landesdurchschnitts. In der darauffolgenden Wahl festigte sich der Trend trotz Repressalien vor allem gegen die belorussischen Kommunisten. Sie stellten zusammen mit den Abgeordneten der prokommunistischen ukrainischen Linken die Hälfte der kommunistischen Fraktion im Sejm. Westbelorussland wurde so flächenmäßig das revolutionäre Zentrum Polens.

Die Rolle der Nationalisten

In der Westukraine lagen die Dinge anders. Hier waren die Kommunisten schwächer. Den Ton gab die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an, die sich an keinerlei Wahlen beteiligte. Sie bekämpfte besonders in den 30er Jahren mit hunderten terroristischen Aktionen polnische Institutionen, Siedler, Vertreter der Staatsmacht, ukrainische Kollaborateure und auch ukrainische Kommunisten. Ermordet wurden auch führende Regierungsvertreter, darunter der Innenminister. Die Staatsmacht setzte Armeeeinheiten mit Artillerie und Flugzeugen ein und terrorisierte die ukrainische Bevölkerung, ohne irgendetwas zu erreichen.

Die westukrainische Kommunisten lagen bei den Wahlen 1928 mit der Sozialdemokratie gleichauf und stellten zusammen die Mehrheit der ukrainischen Vertreter.

Trotz des Terrors der OUN waren die Kommunisten, die einen Anschluss an die Sowjetunion propagierten, das Hauptproblem der Herrschenden. All diese Tatsachen sind heute zumeist unbekannt. Nicht aber den damaligen Herrschenden. Sie waren sich der Situation in diesen Gebieten durchaus bewusst, wie alle Dokumente belegen. Für sie waren nicht die OUN, sondern die Kommunisten, die einen Anschluss an die Sowjetunion propagierten, das Hauptproblem. Alle Versuche ihrerseits, dieses Sicherheitsrisiko zu entschärfen, blieben wirkungslos, auch 1934 die Errichtung eines Isolationslager Bereza Kartuska, in denen Nationalisten wie auch Kommunisten einsaßen. Sie wussten, dass Millionen Ostslawen eine Vereinigung mit der ukrainischen und belorussischen Sowjetrepublik herbeisehnten, wo ihresgleichen das Sagen hatte.

Eine scheinbare Entlastung für Warschau brachte 1938 der Komintern-Beschluss, alle kommunistischen Organisationen in Polen aufzulösen. Es profitierten die Nationalisten, die nun an Einfluss gewannen.

Der deutsche Überfall

Mit dem deutschen Überfall auf Polen witterte die OUN, die mit den Nazis seit Jahren zusammengearbeitet hatte, Morgenluft. Sie begann, militärisch gut organisiert und bewaffnet, den Aufstand am 12. September In jeder Ortschaft hatte sie Stützpunkte und wurde von der Bevölkerung unterstützt. Die zurückflutenden polnischen Truppen wurden angegriffen und ihnen schwere Verluste zugefügt. In vielen Ortschaften übernahm die OUN die Macht und nahm Rache an der polnischen Bevölkerung. Es kam es zu Massakern an Gutsbesitzern, Beamten und anderen polnischen Zivilisten. Man rechnet mit etwa 2 000 Getöteten.

Das Eingreifen der Roten Armee

Mit dem Einmarsch der Roten Armee am 17. September schlossen sich dem Aufstand nun auch die Kommunisten und andere Linke an. Dadurch nahm der Aufstand weiter Fahrt auf. Ukrainische Soldaten der polnischen Armee weigerten sich, gegen die Rote Armee zu kämpfen oder desertierten mit und ohne Waffen.

Am 17. September griffen auch die Belorussen unorganisiert und führungslos zu den Waffen, griffen polnische Truppen an, besetzten Brücken, Bahnstationen und Amtsgebäude, dienten sowjetischen Truppen als Wegführer und schufen rote Milizen. Im Gegensatz zur OUN, die größere und viele kleinere Städte besetzten, gelang es den belorussischen Linken nie, größere Städte einzunehmen. In den Dörfern wurden reiche Polen und Vertreter der Staatsmacht angegriffen, Gutshäuser geplündert und angezündet. Wo die polnischen Organe konnten, griffen sie brutal durch: Dutzende Dörfer wurden niedergebrannt und Standgerichte wüteten. Hier gab es etwa 1 000 Tote.

Die Bevölkerung begrüßte die Rote Armee als Befreier mit Triumphbögen, Blumen und roten Fahnen. Revolutionskomitees und bewaffnete Ostslawen mit roten Armbinden übernahmen die Macht und setzten die bisher Herrschenden fest und übergaben sie der Roten Armee.

Bürgerliche Sicht

Dieser Aufstand, der den bürgerlichen Polen eindeutig zeigte, dass sie keinen Anspruch auf diese Gebiete hatten, ist heute nicht aufgearbeitet, da er für die polnischen Nationalisten beschämend ist und die Befreiungsrolle der Roten Armee legitimiert. Erst 2016 brach der rechtsgerichtete polnische Historiker Piotr Zychowicz dieses Tabu und sprach von Rebellion.

Dennoch konnte die gegenwärtige polnische „Geschichtspropaganda“ den ostslawischen Aufstand 1939 nicht völlig ignorieren. Um den angeblich polnischen Charakter der Gebiete propagandistisch aufrechtzuerhalten, wird der belorussische und ukrainische Charakter des Aufstandes geleugnet oder heruntergespielt. Hierzu gibt es zwei Tendenzen:

Erstens spricht man von einigen kommunistischen Gruppen, die von sowjetischen Spezialeinheiten unterstützt worden waren. Der sowjetische Befreiungsfeldzug war allerdings übereilt und schlecht vorbereitet. Eine derartige Anzahl von „Diversanten“ konnte schon zeitlich für den am 17. September wenige Stunden nach dem sowjetischen Einmarschbeginn ausbrechenden Aufstand flächendeckend nicht vor Ort sein. Hier wird also den Sowjets und nicht den Ostslawen die Hauptrolle zugewiesen. Organisierte Kommunisten gab es in ganz Polen auf Grund des Komintern-Beschlusses seit einem Jahr nicht mehr. Es waren zweifellos Linke, die sich seit Jahrzehnten kannten, nun aber unorganisiert und führungslos waren. Erst im Verlauf der folgenden Woche gab es erkennbare Strukturen und Hierarchien. Daher war der belorussische Aufstand nicht ganz so erfolgreich wie der ukrainische. In der Westukraine standen die ohnehin schwächeren Kommunisten gegenüber den ukrainischen Nationalisten beim Aufstand nur an zweiter Stelle.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die Sowjetarmee wurde als Befreier begrüßt", UZ vom 20. September 2019



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit