Oliver Bottinis „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“: Eine schonungslose Analyse kapitalistischer Agrarindustrie

Die Spur des Geldes

Von Bee

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Oliver Bottini

Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens

DuMont, Köln 2017, 414 Seiten, 22 Euro

Mecklenburg-Vorpommern, Sommer 2011. Ein Sandsturm fegt über die A19. 85 Autos krachen ineinander, 130 Menschen werden verletzt, elf sterben. Maik Winter verliert seine Frau, seinen Sohn, seine Tochter.

Rumänien, Sommer 2014. Die achtzehnjährige Lisa wird vergewaltigt und blindwütig erstochen. Jörg Marthen verliert seine einzige Tochter.

Jörg und Maik sind seit ihrer Kindheit im mecklenburgischen Prenzlin Freunde. Jörg ist Landwirt mit Herz und Verstand. Als sein Vater 1990 den Hof verkauft, versucht er Land von der Treuhand (BVVG) zu erwerben. Den Zuschlag aber erhalten die Zahlungsfähigsten, die die größten Flächen haben wollen. Kleinbauern sind politisch nicht erwünscht. Mancher ehemalige LPG-Funktionär verdient sich eine goldene Nase. So auch bei „Vorwärts Prenzlin“. Die Mitglieder wurden rausgekauft, um später alles an Großkonzerne zu verscherbeln. Die Industrialisierung der Agrarwirtschaft beginnt. Verbittert geht Marthen nach Rumänien, in den Banat. Kauft Parzelle um Parzelle, betreibt ökologischen Landbau, gründet „Neu-Prenzlin“. Nach dem Tod seiner Familie folgt ihm Winter und wird sein Betriebsleiter. Jetzt eint die beiden auch der Verlust.

Ioan Cozma, Kommissar kurz vor der Pensionierung, segelt wie sein Freund und Kollege Ciprian „Cippo“ Rusu schon lange unterm Radar. „Das Leben hatte ihn begradigt wie einen wilden Fluss. Wie die Bega treibt er in müdem Fatalismus dahin. Widerstrebend hatte er es zugelassen, dass ihn das Leben begradigte.“ Seine Vergangenheit droht ihn einzuholen. Nun soll er den Mord an Lisa Marthen aufklären und wundert sich, warum gerade er mit diesem Fall betraut wird. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Der junge Landarbeiter Adrian war verliebt in Lisa, ist vom Tatort geflohen und seitdem verschwunden. Lisa mochte ihn, konnte mit ihm reden, etwas unternehmen. Aber sie wollte zurück, wie ihre Mutter vor langer Zeit. Allein. Die Gespräche mit Angehörigen, Kollegen des Jungen, eventuellen Zeugen sind zeitraubend und nicht sonderlich ergiebig. Ana Desmerean allerdings macht eine Aussage, die das Bild diffuser werden lässt. Die Hubschrauberpilotin hat einen grünen Polo vom Tatort wegrasen sehen. Adrian hat kein Auto.

Der Spur des Geldes zu folgen ist immer eine gute Idee. Selbst wenn es um einen scheinbar in sinnloser Raserei verübten Mord an einer jungen Frau geht. Die Erkenntnis dämmert Cozma peu à peu. Er hat das Gefühl an Strippen zu hängen, an denen bisher noch niemand zieht. Solange er der offensichtlichen (falschen) Spur folgt. Er ahnt, hinter dieser Tat steckt eine weit komplexere Geschichte. Und fängt an zu graben. Die Staatsanwältin der Antikorruptionsbehörde, Valentina Olar, kommt ihm dabei unverhofft zur Hilfe. Sorgt aber dafür, dass er reinen Tisch mit seiner Vergangenheit machen will. Sein Vater war 1943 fünfzehnjährig von den Nazis verschleppt, gefoltert, gebrochen worden. Ein Jahr nach Ioans Geburt 1962 ist er gestorben. Cozma, wahnsinnig vor Wut und Hass auf Faschisten, wurde Polizist, Nazijäger, brutaler Schläger im Dienst. Mindestens einen Toten hat er auf dem Gewissen. Er ist nicht mehr, wer er war.

Zunächst aber folgt Cozma Adrian nach Prenzlin. Er befürchtet, der Killer könnte dem Jungen gefolgt sein, um einen Zeugen zu beseitigen. Auch Maik Winter ist nach Prenzlin gereist und trifft dort auf Anett Marthen, Jörgs Schwester. Die beiden verbindet eine in jungen Jahren gescheiterte Liebe. Nach einem rastlosen Leben als NGO-Aktivistin ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt. Nun kämpft sie einen zähen, aber aussichtslosen Kampf gegen den Agrarkonzern und seine Methoden. Und hier kommt zusammen, was zusammen gehört. Prenzlin wird von einem Agrarkonzern beherrscht. Das Dorf stirbt langsam. Geschäfte schließen, das öffentliche Leben verschwindet, die Jungen wandern einem Arbeitsplatz hinterher. Dafür verdingen sich hier nun boden- und arbeitslos gewordene Rumänen als Erntehelfer. Mit hochmodernem Gerät, Vierzehn-Stunden-Schichten und Hungerlohn.

„Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“ ist eine Geschichte von Verlust und Einsamkeit. Eine Geschichte von Armut, Wut, Gewalt und Resignation. Und es ist ein großartiger Roman über kapitalistische Agrarwirtschaft, die nach dem Ende des Sozialismus in Osteuropa erst richtig Fahrt aufnahm. Nach den ostdeutschen Ländern wurde Rumänien zur Versuchsfläche für industrielle Agrarindustrie großen Stils. Bottini erzählt von den Verwerfungen, die dadurch im Osten Deutschlands und in Osteuropa verursacht wurden. Von den verheerenden Folgen für Mensch und Land. Von Menschen in einer Welt, die sie nicht mehr braucht. Dabei gibt er seinen Protagonisten eine beeindruckende Tiefe, selbst die Nebenfiguren werden in knappen Schilderungen lebendig. Geschickt verschränkt er den Mord mit seinem politischen Thema. Seine Erzählweise, nüchtern und präzise, produziert eine Atmosphäre, in der die Wahrheit ganz allmählich aufscheint und erkennbar wird.

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"Die Spur des Geldes", UZ vom 6. Juli 2018



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